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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Alle nach den untenliegenden Häusern, welche den freundlichen Wohnort der Brüdergemeinde bilden, zurückgekehrt.

Ein junges Mädchen nur ist, wie verloren, auf dem Hügel zurückgeblieben und scheint, in Gedanken versunken, gar nicht zu bemerken, daß ihre Gefährtinnen den Heimweg angetreten haben. Sie steht an einen der großen Lindenbäume gelehnt, dessen starker Stamm ihre schlanke Gestalt völlig verdeckt, und sieht auf die schöne Landschaft hinab, die jetzt, im vollen Sonnenlichte glänzend, mit Berg und Thal, mit Wald und Feld vor ihr liegt. Noch steht nirgends etwas in Blüthe, aber es ist wie ein Ahnen nun kommender Herrlichkeit in der ganzen Natur, als schwelle jede Knospe sich, die Fessel zu sprengen.

„Schwester Carmen, hast Du denn gar nicht bemerkt, daß Dein Chor mit den Aeltesten heimgekehrt und es hier oben leer geworden ist?“ fragt plötzlich eine tiefe Männerstimme neben ihr.

Sie schrak sichtlich zusammen – war es ob des Alleinseins oder ob der Störung in ihrer Träumerei? Sie fuhr zurück und drehte sich hastig nach dem Sprechenden um, einem Mann in schon vorgerückten Jahren. Sein Haar war zwar völlig grau gefärbt, aber das Gesicht hatte noch viel Frische und eine blühende Farbe; es war schwer zu bestimmen, ob er ein Fünfziger oder ein Sechsziger sei. Obschon die Stirn gefurcht war und die Augen ernst und mit dem Ausdruck großer Gelassenheit und frommer Demuth aufblickten, lag doch um seinen Mund ein etwas frivoler Zug, der dem Ausdrucke der Augen widersprach.

„Sind wirklich Alle schon fortgegangen, Bruder Jonathan? Ich habe ganz der Zeit vergessen über dem Glücke, das ich empfand,“ sagte das Mädchen lebhaft.

„Ich freue mich, zu hören, liebe Schwester, daß es Dich so herzinnig glücklich macht, die Auferstehung unseres Heilandes zu feiern,“ entgegnete er ihr. „Wahrlich, das ist ein selig Gemüth, das sich ganz in die Herrlichkeit des Erstandenen versenkt und, der Weltlust entsagend, über das Zeitliche hinweg, sich hier schon der Seligkeit des Jenseits erfreut.“

„Ich dachte aber jetzt gar nicht an das jenseitige Leben, sondern nur an das auf dieser Erde. Wie schön ist es doch, und welch ein Glück, es zu genießen und sich dessen zu freuen!“ sagte sie ehrlich und dabei glänzte ihr Gesicht in einem warmen Ausdrucke der Lebenslust und der Freude.

Es war ein selten schönes Gesicht, in das der Mann neben ihr bewundernd blickte. Das glatt anliegende Häubchen zeigte mit seiner feuerrothen Schleife, daß das Mädchen das achtzehnte Jahr noch nicht erreicht habe, und ließ überall glänzendes, blauschwarzes Haar hervorstreben, dessen Reichthum die knappe Hülle nirgends recht zu bergen noch zu fesseln vermochte. Eine edel gewölbte Stirn mit stolz geschwungenen Bogen der feinen Brauen ließ große schwarze Augen hervorleuchten, die in Verstand und Fröhlichkeit blitzten; die gebogene Nase mit leicht geblähten Flügeln, der ein wenig aufwärts geschwungene Mund mit den vollen kirschrothen Lippen gaben dem Gesicht etwas Stolzes, das aber von dem heiteren, lieblichen Lächeln, das darauf leuchtete, sieghaft bezwungen wurde. Obgleich nur wenig Röthe auf ihren Wangen lag, glänzte doch die zarte, gelbliche Haut in Lebensfrische und Wärme, und die hohe, schlanke, biegsame Figur, die mit so kindlichem Sichgehenlassen an den alten Stamm der Linde sich schmiegte, zeigte in ihren Formen das schönste Ebenmaß.

„Ja gewiß, auch das irdische Leben ist schön, liebe Schwester,“ begann der Mann wieder, noch näher zu ihr tretend. Und sicherlich, er mußte es schön finden, wenn er auf dieses junge, herrliche, blühende Leben sah. „Ja, wir thun auch weise daran, uns dessen zu erfreuen, indem wir es für das jenseitige nutzen, und wir vermögen das, je mehr wir Jesum und in ihm uns einander lieben. Schwester Carmen, hast Du die schöne Rede von der innigen Bruder- und Schwesterliebe aufmerksam angehört, welche unser verehrter Presbyter soeben gehalten hat?“

Er war ihr so nahe getreten, daß, als er sprach, sein Athem heiß ihre Wange berührte, und dabei legte er die eine Hand auf ihre Schulter, sie aber, als sei ihr das peinlich und unangenehm, wendete schnell den Kopf seitwärts und, sich mehr von ihm zurückziehend, sodaß auch seine Hand von ihrer Schulter glitt, sagte sie:

„Ja, ich habe sie gehört und gewiß, es ist schön, einander zu lieben, aber ich denke, es ist nicht immer alles Liebe, was so heißt oder so aussehen soll.“ Und dabei zuckte es schelmisch um ihren Mund.

„Liebe Schwester, wie kannst Du also sprechen!“ mahnte er. „Die Menschen sind freilich schwach und fehlen oftmals gegen die göttliche Lehre, aber mit der Bruderliebe sollen wir einander helfen, auf daß wir alle Eins und innerlich gleich werden.“

„Gleich werden!“ meinte sie sinnend und blickte mit den dunklen Augen über den Sprechenden hin, dann zu den Häusern hinab. „Können wir das? Gott hat uns doch so verschieden geschaffen – wenn er uns Alle gleich haben wollte, würde er das gethan haben?“

Der Mann neben ihr blickte aufmerksam auf sie hin, und es trat ein Ausdruck von Mißbilligung auf sein Gesicht und in den Ton seiner Stimme, als er ihr antwortete:

„Wer Dich also reden hört, Schwester Carmen, und nicht, wie ich, Dich schon gekannt hat, als Du so klein warst, daß Dein Köpfchen kaum zu meinem Knie heranreichte – es war auf Jamaica, als ich aus der Mission zu Deinem Vater hinaus kam – der würde nicht glauben, daß Du immer unter uns gelebt hast und zu uns gehörst.“

Sie erröthete tief bei dem Tadel, der in seinen Worten lag, und als wolle sie sich entschuldigen, entgegnete sie lebhaft:

„O verzeihe mir und glaube nur, ich möchte gewiß den Besten gleichen und gern so gut sein, wie diese es sind! Aber ich kann nicht immer ruhig und gemessen bleiben, wie Ihr Alle es seid, und ich fürchte, auch unserer lieben Aeltesten, Schwester Agathe, wird es mit allen ihren Ermahnungen nicht gelingen, das an mir zu ändern, so wenig wie Du, der weise Bruder Doctor Jonathan Fricke, mit all Deinen bewährten Mitteln nicht den Einen wie den Andern gleich gesund machen kannst. Jeder Vogel singt nach seiner Weise, und sie ist, weil sie anders ist, doch deshalb nicht schlecht. Ich kann auch nicht glauben, daß alle die andern Menschen, die nicht wie wir still einhergehen und geräuschlos sich freuen, verwerflicher sind denn wir, weil sie munter lachen und tanzen bei fröhlicher Musik. Tanzen!“ lachte sie plötzlich auf, daß die weißen Perlen der Zähne zwischen den rothen Lippen hervorblickten. „Es muß eine Lust sein sich im Reigen zu drehen, wenn die heitern Töne so verlockend erschallen.“

Sie hatte sich hinreißen lassen, lauter zu sprechen, als es sich mit herrnhutischer Art und dem Orte vertrug, wo sie sich befanden. Ihre Augen funkelten, und der kleine Fuß, der unter dem Saume des Kleides hervorgeschlüpft war, schien wohl geeignet, sich im fröhlichen Tanze zu schwingen. Ein Blick auf ihren Gefährten aber ließ sie darüber erschrecken. Sie senkte die munter funkelnden Augen, zog schnell das vorwitzige Füßchen wieder zurück und das schwarze Tuch, das von ihren Schultern geglitten war, dichter um sich zusammen.

„Aber,“ sagte sie hastig, „die Zeit, die Zeit! Ueber dem Reden wird es immer später, und Schwester Agathe wird mir mit Recht zürnen.“

Sie eilte mit flüchtigen Schritten durch den stillen, einsamen Todtengarten den Hügel hinab und den Weg nach den Häusern der Colonie zu.

Der Mann aber sah ihr nach, so lange seine Blicke die dahinschwebende Gestalt des jungen Mädchens zu erreichen vermochten. Auch von ihm war alle fromme Gelassenheit gewichen. In seinen Augen leuchtete ein eigenthümliches Feuer; in seinem Gesichte zuckte leidenschaftliches Verlangen auf und versetzte den alternden Mann in die begehrliche Ruhelosigkeit der Jugend.

„Sie hat von der Mutter das stolze, heiße spanische Blut, aber ach! auch die ganze verhängnißvoll berückende Schönheit geerbt,“ flüsterte er vor sich hin. „Wenn ich sie besitzen –“

Er brach schnell ab, als könne Jemand ihn hören. Dann stäubten seine Finger an dem sauberen Anzuge von seinem grauen Tuche herunter, als hätten sich da Schmutz und Flecken angesetzt, und doch war Alles so rein und in Ordnung, daß nichts daran zu verbessern war. Dann wieder den Kopf ein wenig senkend in die gewohnte, demüthig fromme Haltung, gab er den Augen den ernsten Ausdruck, den Gesichtszügen die gemessene Würde von vordem wieder, und er war wieder der alte Bruder Jonathan Fricke, der nun ruhig und gesammelt seinen Weg hinabschritt.



2.

Eine Herrnhuter-Colonie! Mit dem Schritt, den wir da hinein setzen, ist es, als ob wir in eine andere Welt träten, die nach innen und außen unendlich verschieden ist von dem Gefüge

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 646. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_646.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)