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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


und Getriebe derjenigen, die sich dicht bis an ihre Grenzen drängt und der sie still und unabänderlich das Bollwerk ihrer alten Gebräuche, die Einfachheit ihrer Einrichtungen und die Strenge ihrer Sitten entgegensetzt; sie vermischt sich nimmer mit dem, was da draußen um sie wogt und von dem Zeitgeiste vorwärts getrieben wird – sie ist ein Häuflein Christen, das aus der ersten apostolischen Zeit des christlichen Glaubens zurückgeblieben zu sein scheint, gleichsam, wie Pompeji, unter der Asche der Zeiten verschüttet und von späteren Jahrhunderten erst wieder ausgegraben.

Die Verfassung ihrer Gemeinen ist die einer großen, durch Liebe verbundenen Familie; alle Glieder derselben sind Brüder und Schwestern, nach Geschlecht, Alter und Lebensverhältniß in Chöre eingetheilt, an deren Spitze je ein Aeltester oder eine Aelteste steht, denen die Seelenpflege und Sittenzucht obliegt und welche die äußeren Angelegenheiten ihres Chores vertreten. Durch sie wird die Aeltesten-Conferenz von Allem, was in den Chören und Familien vorgeht, genau unterrichtet; diese bildet die leitende Behörde der Gemeine, mit einem Gemeinhelfer als Vorsteher an ihrer Spitze, und es ist nichts, was in dem Leben eines Gemeingliedes sich ereignet, das nicht vor ihr Forum gehört. –

Durch die stillen, peinlich sauber gehaltenen Straßen der Colonie fuhr um die zehnte Morgenstunde ein eleganter Wagen, der mit zwei feurigen Braunen bespannt war.

Jetzt lenkte der Kutscher die Pferde nach dem Gasthause, oder, wie es hier heißt: nach dem Gemeinlogis des Ortes, und der Wagen hielt davor an. Ein junger, stattlicher Herr mit strammer, militärischer Haltung sprang zuerst heraus und half einer Dame und einem etwa zwölf Jahre zählenden Mädchen beim Aussteigen, denen ein langaufgeschossener junger Mann mit noch knabenhaftem Wesen folgte.

„Spanne aus, Johann, und trage dann den Koffer in das Schwesternhaus!“ befahl der Herr dem Kutscher.

Die Angekommenen gingen in das Gastzimmer, das groß und geräumig, die Diele mit feinem, weißem Sand bestreut, aber völlig leer von Gästen, vor ihnen lag. Der Wirth, ein ruhiger, älterer Mann, trat ihnen langsam entgegen, fragte nach dem Begehr der Fremden und bediente dann diese selbst. Es geschah das so lautlos, daß nicht einmal die Teller und Gläser klirrten, die er hereintrug und auf den reinlichen, weißen Tisch stellte; dann ging er ebenso geräuschlos wieder seiner Beschäftigung außer dem Zimmer nach, ohne nach Art sonstiger Wirthe zu versuchen, mit seinen Gästen ein Gespräch anzuknüpfen und nach dem Woher und Wohin zu forschen.

Die Dame, eine vornehme, höchst ansprechende Erscheinung, war offenbar die Mutter der drei Anderen, obgleich sie noch ziemlich jung aussah und der ältere der beiden Brüder wohl schon dreißig Jahre zählen mochte. Sie bot das Frühstück herum, das in allen seinen Theilen vortrefflich war und schnell eingenommen wurde; dann bestellte sie bei dem herbeigerufenen Wirth ein Mittagsmahl für ein Uhr, und die kleine Gesellschaft verließ wieder das Haus.

Auf der Straße herrschte noch dieselbe Ruhe, dieselbe Menschenleere wie vorher.

„Du kennst den Weg nach dem Schwesternhause, Mama?“ fragte der junge Mann die Dame, mit welcher er vorausging, während die beiden Jüngeren ihnen folgten.

„Gewiß, Alexander,“ entgegnete die Angeredete. „Ich bin ja früher schon einmal dagewesen, als ich vor Jahren Präsident von Karsdorf's hier besuchte. Es zog mich gleich alles hier auf das Lebhafteste an, und wie gut kann ich es verstehen, daß Karsdorf's sich hierher zurückgezogen hatten, um an diesem friedvollen sauberen Orte ihr Leben zu beschließen.“

„Mir will diese außerordentliche Sauberkeit fast wie ein Prunken der demüthigen Brüder vorkommen, als solle sich in dieser peinlichen Ordnung und Reinlichkeit die innere Reinheit ihrer Seele widerspiegeln,“ meinte der Sohn lachend.

„Du bist gegen herrnhutisches Wesen eingenommen, ich weiß es, und doch haben die Brüdergemeinen so viel des Guten, und ihre Sitten sind untadelhaft,“ eiferte die Dame dagegen.

„Das mag alles sein, Mama, ich erkenne gewiß das Vorzügliche an, wo es uns hier entgegentritt,“ erwiderte der junge Mann. „Aber das Formenwesen, das sich hier bei allem äußeren Thun und Lassen aufzwängt, ist wie ein Eindämmen des freien Geistes; bei alledem ist so viel Unnatürliches, Gesuchtes, was mir widersteht – Du weißt, das Absichtliche, wo man es fühlt, verstimmt. Ich mag überhaupt die Sectirer nicht leiden, und solche sind sie, obschon sie dafür nicht gelten wollen, und unter all dem demüthigen Wesen, dem frommen Spielen mit dem Glauben versteckt sich sicherlich bei Vielen Heuchelei. Ich will nicht untersuchen, wie viel Herr von Karsdorf zum Beispiel geheuchelt hat, er, der alte Lebe- und Weltmann, um sich der Gemeine anzupassen und als demüthiger Bruder seine Tage hier beschließen zu können.“

Die Mutter schüttelte den Kopf.

„Ich denke eher,“ sagte sie, „es ist den Brüdern und Schwestern das stille, fromme Wesen so zur andern Natur geworden, daß es bei ihnen nicht unnatürlich ist und dazu keiner Heuchelei bedarf. Und ferner: wie trefflich ist der Haushalt der Gemeinen, wie rührig sind sie im Gewerbfleiß und Handel – das sind doch auch praktische Vorzüge, neben der Seelenpflege, welchen sie sich widmen.“

„Sie sind darin groß, das gebe ich zu, aber es ist doch immer eine Größe im Kleinen; ihre Vorzüge würden sehr klein und unhaltbar im Großen sein, für eine Staatsverfassung undenkbar und unausführbar. Es ist wie die fleißige Arbeit in einem Ameisenhaufen, rührig und geschäftig, aber kleinlich. Sie bringen keine Genies hervor. Wo ist je ein solches unter ihnen erstanden, wo ist je ein großer Gelehrter oder Künstler aus ihren Kreisen hervorgegangen?“

„Und ihr rastloses Ringen,“ fiel die Mutter lebhaft ein, „ihr Kämpfen unter Entbehrungen, Mühsalen und Verfolgungen aller Art in fernen Ländern um des großen Gedankens willen: wilde, rohe Völkerstämme der Verderbniß zu entreißen und für die versittlichende christliche Religion zu gewinnen, ist das nicht auch eine Großthat? Dann ihre eigenen Erziehungsanstalten in den Gemeinen – sind sie nicht ausgezeichnet? Ich erhoffe für Adele den größten Gewinn davon. Aber,“ sagte sie jetzt stehen bleibend, „ich habe doch wohl Unrecht gethan, auf meine Ortskenntniß zu bauen; denn wie mir scheint, bin ich in die falsche Straße eingelenkt, da das Schwesternhaus entschieden hier nicht steht.“

„Nun, dort kommen endlich einmal menschliche Wesen gegangen, ein Mädchen mit einem Kinde; die werden uns berichten können,“ entgegnete Alexander.

Er ging den Kommenden einige Schritte entgegen und höflich grüßend, bat er um Auskunft.

Das junge Mädchen machte den Fremden eine zurückhaltende Verbeugung und hörte mit gesenkten Augen die Frage nach dem Wege zum Schwesternhause an. Dann wendete sie sich zu der inzwischen auch herangekommenen Dame und sagte bescheiden und artig: „Ich gehe eben dorthin – darf ich Sie führen?“

„Sie würden uns verbinden,“ entgegnete die Dame freundlich.

„Welch liebliche Schwester! Da möchte man schon Bruder sein,“ raunte Alexander der Mutter lachend zu, aber doch noch nicht leise genug, als daß das feine Ohr des Mädchens es nicht vernommen hätte; denn sie erröthete tief, und die vollen Lippen des kleinen Mundes kräuselten sich stolz und abweisend empor. Sie kehrte sich, augenscheinlich tief verletzt, von dem Herrn ab, sagte zu der Dame nur: „Bitte,“ und schritt ruhig und unbekümmert um die ihr Folgenden, mit dem Kinde an der Hand voran.

Sie führte Jene ein Stück des von ihnen gekommenen Weges zurück und bog dann in eine Seitenstraße ein. Auch hier gab es – es war schier zum Verwundern – lebende Wesen; denn ein Pferd stand aufgezäumt und gesattelt vor einem der Häuser, und ein Mann war eben im Begriff, dasselbe zu besteigen.

Der fromme Bruder mochte nicht zu den allzu geübten Reitern, und das Pferd, ein stätig aussehendes Thier, nicht zu den geduldigen Creaturen gehören; denn jener zeigte sich ziemlich linkisch, und dieses schlug, bei der bekundeten Absicht des Mannes, heftig aus und sprang auf die Seite. Der Mann redete ihm ruhig zu, streichelte seinen Kopf und versuchte dann abermals das schwierige Manöver, hinauf in den Sattel zu kommen, aber mochte es nun der Anblick der näherkommenden Fremden sein, der ihn verlegen und seine Ungeschicklichkeit noch unbehülflicher machte: er hatte kaum den Fuß auf den Bügel zu setzen versucht, als das Thier bäumte, ausschlug und zurücksprang; dabei entglitt der Zügel seiner Hand, und der Mann fiel auf das Straßenpflaster hin, während das scheue Pferd frei die Straße hinab, gerade den Kommenden entgegensprengte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 647. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_647.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)