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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

No. 44.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.




Schwester Carmen.
Aus dem Leben einer deutschen Herrnhuter-Colonie.
Von M. Corvus.
(Fortsetzung.)


7.

Trotz des Septembermorgens brütete eine wahre Julihitze über der Landschaft, und so oft ein Luftzug sich erhob, wirbelte er mit sengendem Hauch den Staub der Landstraße in die stillen Gassen der Colonie.

Ungeachtet der Sonnengluth arbeiteten Maurer und Zimmerleute rüstig an dem Baue des neuen Hauses, das Bruder Mauer aufführte und das außerhalb der inneren Straßen am Saume der Gärten einen anmuthigen Platz hatte. Die weite sonnige Landschaft konnte man von dem Erdgeschosse, das sich schon über dem Grunde erhob, überblicken, zunächst die grünen Wiesen mit dem Ententeiche, an dem vorüber der Weg nach der alten Mühle im Thale führt, dann die Landstraße, den Hügel mit dem freundlichen Gottesacker und endlich im Süden zu Höhen emporsteigende Waldmassen und ragende Bergkuppen, welche die weite Aussicht abschließen.

„Das also wird Dein Zimmer werden, lieber Vater, und das hier daneben das meinige,“ sagte Carmen vergnügt zu dem Alten; denn sie waren Beide in den lichten Morgen hinausgewandert, um mit eigenen Augen zu sehen, wie ihr zukünftiges Heim wachse und werde. „Wie hübsch es sich darin wohnen wird, Vater! Ich werde mir Weinlaub um die Fenster ziehen, damit im Sommer ein traulich gedämpftes Licht hereinfällt, und wenn auch kein Schmuck in das Zimmer kommt, einen Schrank mit Büchern und hier am Fenster einen Tisch mit Blumen soll es darin geben, und zwischen diesen beiden schaffe ich mir einen solchen lieben, behaglichen Winkel, wie ihn Frau von Trautenau in ihrem Zimmer hat. Und da, wenn es am Abend dämmert, lieber Vater, sitzest Du bei mir und erzählst mir von den Schneebergen des Himalaya und den Wundern der indischen Welt; oder wenn dann die Lampe brennt, lese ich Dir vor – gerade so, wie ich es mit Frau von Trautenau in ihrem heimlich stillen Traumwinkel gethan habe.“

„Wie viel Du doch immer von dieser Frau sprichst, Carmen! Ist sie Dir denn so sehr lieb geworden?“ fragte Mauer.

„Ja, sehr lieb, Vater!“ entgegnete sie lebhaft, und die Wärme ihrer Empfindung glänzte auf ihrem schönen Gesicht; „denn sie ist so voll großer Güte für mich, und bei ihr habe ich, die damals Vereinsamte, es wieder empfunden, wie schön es doch ist, wenn man einer Mutter vertrauend in's Auge sehen kann. Bei ihr würde ich immer Schutz und Verständniß gefunden haben, wenn Du mir nicht wiedergekehrt wärest, lieber Vater. Sie ist nicht so still und einfach, wie unsere Schwestern es sind, aber sie ist in Allem edel und gut, und obgleich sie zu denen von der Welt draußen gehört, kann man doch nicht fehl gehen, wenn man ihr folgt. Die Welt!“ fuhr sie sinnend fort. „Wir Alle sind doch von dieser so gescholtenen Welt, so lange wir leben – o, wie kann ein Theil dieser sich da für besser halten als die anderen?“

„Nicht für besser halten wir uns, Kind, aber auf sicherem Wege, um besser zu werden,“ fiel der Vater ein. „Und doch, auch bei uns sind die Abwege nicht ausgeschlossen, die vom Ziele ablenken,“ fügte er seufzend hinzu.

„Siehst Du, lieber Vater,“ sagte sie mit holdem Lächeln, „das ist es, was auch ich meine: der rechte Weg und der falsche kreuzen sich nun einmal überall in dieser Welt, und unser Herz muß treulich suchen, daß es den rechten immerdar finde.“

„O, daß Dich das Deine nie mißleite!“ meinte der alte Mann bewegt. „Wer lange gelebt hat, wie ich, wer gefehlt und gebüßt hat, der lernt dem Herzen mißtrauen.“

„Horch, Vater, sind das nicht Schüsse?“ unterbrach Carmen erregt den Vater.

In der That ertönten schon mehrmals von fern her dumpfe Schläge, wie Kanonenschüsse; plötzlich war es, als ließen sie sich aus kürzerer Entfernung vernehmen, und dazwischen schallte auch das Knattern von Gewehrsalven herüber – von dem Saume des nach Süden sich hinstreckenden Waldes kräuselten sich Rauchwolken auf und zogen langsam an der schwarzen Masse der Tannen hin.

Vater und Tochter waren zu einer alten Linde getreten, die etwas erhöht neben dem Baue stand. Von hier blickten sie, bequem auf dem Rasen gelagert, in den Morgen hinaus; der Himmel hatte im Westen eine dunkle Färbung angenommen; schwarze Wolken ballten sich dort drohend zusammen – man mußte auf Unwetter gefaßt sein.

Und immer und immer wieder dröhnte es von drüben aus dem Walde zu ihnen herüber.

„So viel Schüsse! Sind Jäger dort?“ fuhr Carmen erstaunt zu fragen fort.

„Soldaten sind's, die dort ein Manöver haben,“ rief einer der Arbeiter, der neugierig herbeigeeilt war. „Ich habe davon gehört, daß sie in den Ortschaften jenseits des Waldes im Quartier liegen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 713. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_713.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)