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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


„Schwester Carmen Mauer!“ las er dann mit unsicherer Stimme.

Nun blickte er mit eigenthümlicher Erwartung auf Schwester Agathe, deren Finger auch ein wenig zitterten, als sie das soeben zusammengefaltete Blatt zu öffnen suchten. Lange wollte es ihnen nicht gelingen – endlich war es offen; ein Blick auf dasselbe, und ihre Hand sank langsam herab, aber diesmal ohne das Blatt niederfallen zu lassen, und ihre Augen erschrocken zu Jonathan aufschlagend, sagte sie tonlos:

„Bruder Daniel Becker!“

Haß oder Liebe, Triumph oder Verzweiflung, was war es doch, das auf Jonathan’s Zügen geschrieben stand? Diesmal vergaßen sie alle Selbstbeherrschung.

„Schwester Carmen Mauer!“ Der Name ging von Mund zu Mund und wiederholte sich überall in dem Versammlungssaale. Carmen war Allen lieb, obschon sie doch eigentlich so ganz anders als die Uebrigen war – aber das Anmuthige ihres Wesens bestrickte Alle, und die Güte ihres fröhlichen Herzens nahm Jede für sie ein.

„Carmen Mauer!“ der Name wiederhallte im Saale, aber es erfolgte keine Antwort darauf – Carmen war nicht da.

„Wo ist Schwester Carmen Mauer?“ fragte jetzt nochmals Bruder Jonathan, der sich wieder gefaßt hatte, und es schimmerte wie ein helles Licht der Hoffnung auf seinem Gesichte auf.

„Hier!“ entgegnete da plötzlich ihre Stimme, noch athemlos vom schnellen Laufe. Alle kehrten sich um, und unter der geöffneten Thür des Saales stand sie, die Wangen geröthet, und mit den großen schwarzen Augen verwundert über die Versammelten hinschweifend.

„Hier bin ich,“ wiederholte sie vortretend, da Alle schwiegen, „bedürft Ihr meiner?“

Schwester Agathe zauderte; sie wußte nicht gleich zu antworten. Daß Carmen auch gerade diesen Morgen so lange ausbleiben und es ihr dadurch unmöglich machen mußte, sie auf den eben abgeschlossenen Act vorzubereiten! Am liebsten hätte Schwester Agathe auch jetzt noch allein mit dem Mädchen gesprochen und ihr freundlich zugeredet, ehe ihr vor Aller Ohren die auf sie gefallene Entscheidung mitgetheilt wurde.

Aber da trat schon Jonathan auf Carmen zu. Seine alte Ruhe war ihm wiedergekehrt, ja es lag etwas Siegesgewisses in seinem Blicke, wie er die Augen fest auf die Ahnungslose richtete, als habe er diese nun sicher in seiner Hand.

„Liebe Schwester Carmen,“ redete er sie an, „Du hast durch Dein Fernsein es zu hören verabsäumt, daß Bruder Daniel Becker aus dem Kaffernlande an die Gemeine geschrieben und die Wahl einer Gefährtin für sich erbeten hat. Soeben ist hier das Loos darüber gezogen worden, und der Heiland hat durch dasselbe die Wahl auf Dich gelenkt.“

„Auf mich?“ fragte Carmen verwirrt, die Augen groß und erstaunt auf den Sprechenden richtend, als begreife sie nicht, was er ihr sage.

„Ja, auf Dich, liebe Schwester,“ fuhr Jonathan mit erhobener Stimme fort, „und ich hoffe, Du wirst diese Wahl demüthig annehmen, wie es sich geziemt, und Deiner Bestimmung als Frau und Gehülfin Bruder Daniel’s folgen –“ er stockte einen Augenblick und schloß dann mit Betonung: „wenn Du noch keinem andern Manne verlobt bist.“

Da flammten Carmen’s Augen leidenschaftlich und stolz auf.

„Ueber mich geloost?“ stieß sie empört hervor, „durch blinde Willkür über mich verfügt, als ob ich eine todte Zahl, eine leblose Waare sei? Einem Manne mich zugesprochen, zu dem kein Zug des Herzens mich zieht und dem es gleich ist, ob ich oder eine Andere ihm zufalle? Und das Alles in des Heilands Namen? Aber das ist ja Entwürdigung, Sclaverei, wie sie auf den Inseln schlimmer nicht sein konnte, Sclaverei, die zu mildern und zu lösen Ihr doch mit dem ganzen Aufwande Eurer Christenliebe Euch für die armen Schwarzen in den Missionen müht!“

Sie hatte leidenschaftlich gesprochen – jetzt hielt sie erschöpft inne. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen; nur die großen Augen sprühten in dunklem Feuer.

„Ich werde mich nimmer Eurem Gottesurtheil fügen und erkenne diese Wahl nicht an.“

Alle sahen entsetzt auf Carmen, erschrocken ob dieses unumwunden und schroff ausgesprochenen Eigenwillens. Plötzlich, als wäre sie eine Aussätzige, wichen alle Schwestern von ihr zurück – sie stand allein da; Agathe nur trat zu ihr hinan und ergriff bekümmert ihre Hand.

„Liebe Schwester,“ sagte sie begütigend, „Du bist erregt; da kann man des Herrn Stimme nicht hören. Geh’ in Dich!“

Carmen schüttelte abwehrend den Kopf, und in dem eigenthümlichen Gemisch von Stolz und Demuth ihres Charakters von dem einen zum andern übergehend, neigte sie sich kindlich demüthig vor der treuen Pflegerin.

„O, verzeihe mir, liebe Schwester Agathe,“ bat sie, indem sie dieselbe innig umschlang, „verzeihe mir, wenn ich anders reden muß, als Du für recht hältst – aber Du kannst nichts ändern an dem, was ich gesagt. Laß mich jetzt zu meinem Vater gehen! Er ist mein natürlicher Beschützer und hat am ehesten ein Recht auf mich und über mich zu verfügen.“

Sie hatte vermieden, Jonathan wieder anzusehen, es war ihr, als könne dieses Unheil nur von ihm über sie heraufbeschworen sein, und es gährte wild in ihr auf, sobald sie ihn anblickte. Jetzt löste sie sanft ihre Arme von Agathens Nacken und, ohne sich umzusehen, verließ sie den Saal.

Es duldete sie nicht im Hause; es drängte sie fort von hier, als müsse sie sich einer Gewalt entziehen, die ihr drohe. Sie eilte über die Straße; dunkle Wolken waren am Himmel heraufgezogen; Donner grollte – ob aus den Kanonen der noch immer in rüstigem Scheinkampf agirenden Soldaten oder aus den Wolken, sie beachtete es nicht – erst im Zimmer des Vaters hemmte sie die hastigen Schritte.

Mauer saß sinnend im Lehnstuhl. Sie warf sich an seiner Seite nieder, umschlang ihn mit ihren Armen und den Kopf an seine Brust drückend, sagte sie athemlos:

„Vater, beschütze mich!“

Er sah das Mädchen verwirrt an. Noch vor einer Stunde so heiter und jetzt fassungslos zu seinen Füßen?! Er hob ihren Kopf auf und blickte ihr in das bleiche Gesicht.

„Gott im Himmel, was ist Dir denn widerfahren, Kind?“

„Vater – man hat Dein Kind verloost!“

„Verloost?“

„Ja, verloost, wie ein Ding, das nicht lebt und nicht fühlt, keinen Willen und keine Menschenwürde hat – einem Manne preisgegeben, von dem ich nichts mag, und das in des Heilands Namen! Vater, schütze mich!“

„Verloost?“ fragte der Alte noch einmal, als könne sein Kopf nicht fassen, was sein Ohr vernommen. „Nein, da sei Gott für, daß solches mit Dir geschehe! Es ist genug, daß Eines von uns schon unter diesem Unheil gelebt und gelitten hat. Nein, Carmen, mein liebes Kind, sei ruhig, Dein Vater wird den Aeltesten sagen, daß er seines Kindes nicht entbehren könne.“

Der schwache Schimmer eines Lächelns irrte wieder um Carmen’s bleiche Lippen, als er so zu ihr sprach, und sie athmete erleichtert auf.

„Wußte ich doch, daß Du mir beistehen werdest, mein lieber Vater. Ich habe auch schon die Wahl von mir gewiesen und bin zu Dir geeilt, damit Du Deinem Kinde helfest.“

„Aber für wen sollte denn eine Gefährtin verloost werden?“ fragte jetzt Mauer, ihr sanft über die bleichen Wangen streichend.

„Für Daniel Becker, den Bruder Missionar, der vor einem halben Jahre zu den Kaffern ging. Nein, Vater, Du lässest mich nicht von Dir; wir bleiben beisammen – uns soll Niemand trennen – auch dieser Jonathan nicht,“ stieß sie unwillkürlich hervor.

Mauer schrak bei Nennung dieses Namens zusammen und starrte sie an.

„Jonathan?“ fragte er gedehnt. „Warum dieser?“

„Vater, ich fürchtete, Dir davon zu sagen,“ stotterte sie erschrocken über das, was sie soeben verrathen. „Er ist Dein Freund – Du bist so erregt, wenn irgend etwas ihn betrifft. Aber Du mußt es hören: ehe Du wiederkehrtest, hatte er mich von Schwester Agathe zur Frau begehrt – und da ich ihn nicht mochte – ich kann mir nicht helfen, mir graut vor ihm – ach Vater, da verfolgte er mich mit wilder Liebe, umarmte und küßte mich wider meinen Willen. Er bat, daß ich schweige über das, was er gegen mich gewagt, und ich habe es ihm versprochen – aber es war ja, ehe ich wußte, daß ich meinen Vater noch habe, und da es nun einmal gesagt ist, mag es auch gut sein, daß Du es weißt.“

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