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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Ihre großen Augen blickten vertrauend zu ihm auf, aber sie konnten seinen Blick nicht finden; er hielt ihn von ihr abgewendet und sah bestürzt, voll Kummer und Angst in's Weite.

„Lieber Vater, bist Du mir böse?“ fragte sie besorgt.

„Nicht böse, nein, aber es ist ein Unglück, ein großes Unglück,“ sagte er tonlos.

In diesem Augenblicke klopfte es an die Thür – sie öffnete sich und – Jonathan trat ein. Vater und Tochter starrten ihn erschrocken an, ohne sich zu rühren: keines von ihnen sagte ein Wort und keines erhob sich. Mauer blieb zurückgesunken in seinem Lehnstuhl sitzen. Carmen erhob sich nicht aus ihrer knieenden Stellung und drängte sich nur fester an des Vaters Brust.

Jonathan betrachtete die Gruppe einige Augenblicke lang schweigend – nie war Carmen ihm schöner erschienen, als in dieser anschmiegenden Stellung, in der Hingabe von Liebe und Vertrauen. Sie so an dem Herzen des Vaters ruhen zu sehen war nichts, was eifersüchtige Gefühle reizen konnte, aber es reizte ihn, um zu begehren, daß sie so an seine Brust sich lehnen möchte. Seine Augen schwelgten in dem Anblick und seine Leidenschaft nährte sich an ihm.

„Ihr seid bekümmert – ich wußte es und komme, Euch zu helfen,“ sagte er endlich, da die Beiden noch immer schwiegen, mit dem mildesten Ausdruck seiner ruhigen Stimme. „Es thut mir leid, sehr leid, daß Schwester Carmen sich hat hinreißen lassen, aller Pflicht und Demuth zu vergessen und so wilde, hitzige Worte vor den Versammelten zu sprechen. Wir müssen sehen, wie wir das wieder ausgleichen können – ich will überlegen, was sich dagegen thun läßt, wenn Carmen mir es möglich macht, Schritte für sie zu unternehmen.“

„Lieber Bruder, schone meines Kindes!“ bat der alte Mann mit unsicherer Stimme. „Sie darf die durch das Loos auf sie gefallene Wahl nicht annehmen; sie darf nicht von mir gehen, nicht so weit fort von mir, und ich, der ich sie kaum erst wiedergefunden, kann meine Tochter nicht missen.“

„Du weißt, lieber Bruder,“ entgegnete Jonathan, „wir von der Brüderunität erkennen in dem Loose, wo es nöthig ist, sich desselben zu bedienen, den Willen des Herrn. Jeder von uns soll die Pflicht und das Amt tragen, welche der Herr ihm auferlegt, und nicht fragen, ob sie mit seines Herzens Wünschen zusammentreffen. Wenn Carmen's Hand noch frei ist, muß sie dem Rufe folgen, der an sie ergeht. Es wird ja auch nicht auf immer sein, daß sie von uns scheidet; ein paar Jahre – – und sie kehrt mit dem Gatten zurück.“

„Ein paar Jahre! Werden mir denn deren beschieden sein?“ fragte Mauer traurig.

„Lieber Bruder, ich sagte im Schwesternhause bereits, daß, wenn Carmen sich einem Manne schon verlobt habe, man die durch das Loos getroffene Wahl ablehnen und dann die Aeltesten um ihre Zustimmung für diesen Bund bitten könnte,“ entgegnete Jonathan, jedes seiner Worte scharf betonend.

Carmen's Lippen kräuselten sich stolz auf, als er so sprach, und sie sah mit schneidender Kälte, als sei ihr Blick von hartem Stahl, zu ihm hin. Sie ahnte, wo hinaus er wolle, aber sie entgegnete kein Wort. Sie lehnte an ihres Vater Brust; sie fühlte sich gewiß, an ihm eine Stütze und einen Rückhalt zu haben, und in dieser köstlichen Sicherheit nahm sie jetzt Alles ruhig hin.

An ihren stolzen, abweisenden Blicken erhitzte sich aber Jonathan, wie ruhig er auch schien, immer mehr – er mußte nun mit ihr fertig werden, so oder so; er wußte jetzt eigentlich nicht, was er für das Mädchen empfinde, Haß oder Liebe; aber er sagte sich: diesen Stolz zu beugen, diese Sicherheit zu vernichten, das müßte eine unendliche Befriedigung sein.

„Aber sie ist ja nicht verlobt,“ warf Mauer ein, da Jonathan schwieg. „Ich jedoch habe als Vater das natürliche Recht, bei der Bestimmung über mein Kind zu entscheiden.“

„Das Recht, lieber Bruder?“ Jonathan blickte höhnisch auf Mauer hin. „Es käme darauf an – nicht jedem Vater in der Brüdergemeinde würde dasselbe zugestanden werden können!“ und als der alte Mann erbleichend vor ihm die Augen senkte, fügte er lächelnd hinzu: „Doch wenn ich Dich bäte, um der alten Freundschaft willen bäte, mir Carmen zum Weibe zu geben, würde das Deine väterliche Zustimmung finden?“

Es war ein hülflos flehender Blick, den Mauer jetzt auf die Tochter richtete; seine Hände faßten nach den ihrigen und drückten sie krampfhaft; seine Lippen bewegten sich, als wollten sie sprechen, aber es klang kein Laut über sie hinweg.

Carmen sah den Vater erstaunt an.

„Vater, lieber Vater, auch das Weib Dieses hier kann ich nicht werden,“ flüsterte sie, bittend zu ihm aufblickend.

„Kind, kannst Du es um meinetwillen nicht?“ rangen sich die Worte von seinen Lippen.

„Nein, ich kann es nicht. Dringe nicht in mich, lieber Vater, es würde mich elend und Dich nicht glücklicher machen.“

Dunkle Röthe übergoß das Gesicht Jonathan's bei ihren Worten, und der Zorn, die Wuth der Enttäuschung siegten über die gewaltsam festgehaltene Selbstbeherrschung. „Du kannst nicht mein Weib werden, Schwester Carmen?“ rief er drohend aus. „Nun wohl, dann magst Du als Gefährtin Bruder Daniel's nach dem Capland gehen; denkst Du, ich werde Dein auflehnendes, störrisches Wesen dulden, das so schlecht für ein Glied der Gemeine paßt? Laß' Dir von Deinem Vater sagen, daß ich wohl Mittel in Händen habe, Dich zu dem Einen oder dem Andern zu zwingen!“

Carmen war aufgesprungen, und hochaufgerichtet maß sie ihn mit ihren stolzesten, kältesten Blicken; dann, als ob sie nicht mit ihm reden möge, kehrte sie sich gelassen zu ihrem Vater um.

„Bitte, lieber Vater,“ sagte sie, „sprich Du für Dein Kind und beschütze Du es!“

Sie ergriff seine Hand, und ihre Augen flehten in rührender Bitte, aber er schüttelte in Gram und Herzensnoth den Kopf und schwieg.

„Vater,“ schrie sie auf, „Du sagst nichts?“

Kein Ton kam über seine farblosen Lippen, nur Seelenangst sprach aus seinen Augen. Da schlug sie die Hände vor das Gesicht und brach kraftlos zusammen.

Jonathan's Augen blitzten im Triumph auf. Wie sie da lag, den Kopf an die Lehne von ihres Vaters Stuhl gesunken, das Gesicht in ihre Hände vergraben, weideten sich seine Blicke an der zusammengebrochenen Gestalt. Jetzt war sie endlich gebeugt, jetzt war sie sein, mußte es werden.

„Ihr werdet gut thun,“ sagte Jonathan, „die Sache ruhig zu überlegen und zu besprechen; dann wirst Du mir Deine endgültige Entscheidung geben, lieber Bruder Michael; ich werde heute Abend kommen, Dich danach zu fragen. Wir sollen einander in Liebe helfen und beistehen um des Heilandes willen, und Du weißt, ich übe gern Schonung und Duldung, wie der Herr es befiehlt, aber es giebt Fälle, wo beide aufhören müssen.“

Er verließ das Zimmer.




8.

Bruder Mauer war mit seiner Tochter allein; es war still geworden um die Beiden und auch düster – schwere Wolken hingen am Himmel und warfen ihre Schatten durch's Fenster. Zeitweilig fuhr ein irrer Schein an den Scheiben nieder und beleuchtete momentan mit grellem Licht Vater und Tochter, und ein Donnerschlag rief ihnen laut seine dröhnende Mahnung zu, als wolle er sie aufrütteln aus ihrer Starrheit – sie rührten sich nicht. Draußen strömte der Regen nieder, und der Wind fegte heulend über den kleinen Platz hin – sie schienen nichts davon zu vernehmen.

Endlich tastete Mauer's Hand nach dem Kopf des Mädchens und strich liebevoll, zärtlich darüber hin. Sie griff nach der Hand, als ob diese ihr wieder Leben gebe, und das Gesicht emporrichtend, suchte sie mit ihren heißen, trocknen Augen nach ihm und unsäglich traurig ihn anblickend, sagte sie:

„Vater, warum hast Du Dein Kind in der Noth verlassen?“

„Carmen, weil ich machtlos bin Diesem gegenüber,“ flüsterte er.

„Machtlos?“ fragte sie. „Aber wie kann er Gewalt haben über Dich, wenn Du sie nicht dulden willst? Er, ein Freund, gegenüber dem Freunde?“

„Ach Carmen,“ entgegnete mit sanfter Klage der alte Mann, „daß er seine Macht noch nicht an mir geübt, ist eben nur ein Beweis seiner großen Freundschaft für mich, aber, wenn er sie gebrauchen will – ich kann es ihm nicht wehren und muß es dulden. Ich sagte Dir, es ist ein großes Unglück, daß er Dich liebt und Du ihn nicht magst.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 716. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_716.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)