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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


endlich gepreßt hervor, „von heute ab: Margaretha – hier steht der Mann, dem Du angehörst durch den Spruch des Schicksals.“

„Ist es möglich?“ rief Hallerstein und eilte auf Karin zu. Mit klopfenden Pulsen, mit wogendem Athem lag sie an der Brust der treuen Mutter Hedda, das Gesicht mit den langen goldenen Haaren schamhaft verhüllt. Aber an dem vollen weißen Nacken des Mädchens nestelte die Alte unvermerkt ein Bändchen los, und als Hallerstein herzu trat, ließ sie die Schüchterne sanft aus den Armen und legte Karin's Medaillon schweigend in seine Hände.

„Mein Vater!“ fuhr der Baron erstaunt auf, indem sein Auge auf dem Bilde weilte. „Wunderbare Fügung! Karin, Du bist meine Braut, mir verlobt durch die Eltern, durch das Schicksal, durch Gott. Mußte ich verschlagen werden an dieses Felsengestade, um Dich zu finden? Mußtest Du die kühne Fahrt wagen um aus Todesnoth und Verderben uns den Talisman zu retten, den uns die Todten senden und der uns nun mit holdem Bande bindet? O, wer begreift die Wege der Vorsehung!“

„Ja, wer begreift sie?“ wiederholte Mutter Hedda. „Ich will draußen darüber nachdenken in der Einsamkeit. Einen Kranz will ich winden aus Farrenkraut und Eriken, Deinen Brautkranz, Karin, und ihn siebenmal übergießen mit Meerwasser und siebenmal trocknen lassen im Mondschein. Glück bringt er der, die ihn trägt.“

Sie ging. Ihr weites Gewand flatterte im Winde; hinter den Felsen verschwand sie.

Karin lag in Hallerstein's Armen.

„Wie war es doch?“ flüsterte er leise. „'Ein großer Durst nach' – ?“

„Der nun für immer gestillt ist,“ hauchte sie und schmiegte sich inniger an den geliebten Mann.

„Und Du fühlst Dich mein für's Leben, Karin?“

„Ich fühle die Hand des Schicksals über mir, die Hand eines freundlichen Schicksals,“ sagte sie feierlich, als spräche sie ein Gebet.

Hallerstein blickte ihr lange in die großen, stillen Abenteueraugen, lange und schweigend. Vater Claus stand neben ihnen, an einen Fels gelehnt, und schauete nachdenklich über die Wasserfläche hin, auf der die Mittagssonne glitzerte; leise klatschten die Wellen an's Ufer, und vom Strande her, wo die Burschen rüstig am Boote zimmerten, tönten wieder die Hammerschläge herüber; in der feuchten Luft klang es dumpf, als hallten sie von fern her.

„Sie zimmern Euch schon das Boot, das Euch forttragen soll in den Hafen des Glücks,“ meinte der Alte ernst. „Fort, weit fort – aber Mutter Hedda und ich Graukopf – wir – wir bleiben – und –“

„Vater,“ rief Karin und warf sich an seine Brust, „muß denn mit dem höchsten Glücke so bitterer Schmerz kommen?“ Und sie streichelte ihm zärtlich die alten sturmzerfressenen Wangen.

„Ist nur Menschenloos, Kind,“ erwiderte er anscheinend ruhig, aber daß er die Lippen zwischen die Zähne zog und mit den kleinen wassergrauen Augen unstät blinzelte, als blendete ihn das von den Sonnenfunken durchglitzerte Wasser, das war doch ein Zeichen, daß es in ihm nicht ruhig war. „Just dasselbe Wetter, wie damals!“ sagte er; dann, als wollte er sich die Miene gleichgültiger Heiterkeit geben, nahm er einen Stein vom Strande auf und schleuderte ihn, wie zum Zeitvertreib, mit kräftigem Wurfe weit in die See hinein. „Just dasselbe Wetter,“ hub er mit erkünstelter Ruhe wieder an, „wie vor fünfzehn Jahren, als der Sturm ausgetobt hatte und wir uns in heiterm Sonnenschein des Kindes freuten, als einer unverhofften Gottesgabe.“

„Vor fünfzehn Jahren!“ wiederholte Karin in Gedanken verloren.

„Erzählt!“ bat Hallerstein.

„Ist schnell gethan,“ gab der Alte zurück und setzte sich auf einen im Wege liegenden Felsblock, während Hallerstein und Karin sich neben ihm niederließen. „Stand in schwarzer Sturmnacht auf dem Posten, die Signallampe über mir, Stricke und Rettungskorb zur Seite; das Boot am Strande war in Bereitschaft. Hol's der Teufel, eine grausige Nacht! Mosjö Blasius hatte all' seine Schrecken losgelassen, und die Fledermaus flatterte ängstlich um das Licht des Leuchtthurms. Dachte an die armen Seelen, die da draußen in zerbrechlichen Nußschalen über dem Abgrund des Verderbens schwebten – da – ein Nothschuß! Fix war ich parat. Das Boot los und mit den Jungens, die ich schnell herbeirief, Hals über Kopf hinaus in Braus und Graus, dem Schimmer einer in den Wellen auftauchenden Lampe entgegen – alle Wetter! das dauerte nicht zwei Minuten! Aber die Brandung warf uns zurück. Konnten nicht hinaus, mußten verzweifelt ringen mit dem vermaledeiten Sturm, und als wir den festen Boden wieder unter uns hatten, da gab ich das Signal, daß wir nicht helfen könnten. Hörten nach einer kurzen Weile das Schiff mit donnerndem Krach auf den Fels rennen und mußten die Hände unthätig in den Schooß legen. Geflucht hab' ich und gezetert über das Unwetter und Tabakspfeife und Branntwein schier vergessen. So ging die Nacht hin. Gegen Morgen legte sich der Sturm, und mit dem ersten Sonnenstrahl lief ein Boot unsere Insel an. Die Zwei, die darin saßen, waren ein alter Matrose – er mußte an die siebzig sein – und ein Schiffsjunge, ein Kerl von sechszehn Jahren; das war der Rest der Besatzung des gestrandeten Schiffes. Sagten, es sei ein Stettiner Passagierdampfer gewesen, nach Stockholm bestimmt. Redeten weiter nicht viel, die Zwei, berichteten blos: die Verwirrung an Bord im Augenblicke der Strandung ließe sich nicht beschreiben, und in der Todesangst – hm, 's geht gewöhnlich so – sei Alles in das eine größere Boot gestürzt, an das kleinere aber, in das nur sie sich gerettet, du lieber Gott, daran habe außer ihnen keine Seele gedacht, und vielleicht seien sie die Einzigen, die mit dem Leben davongekommen. 'Aber seht,' sagte der alte Matrose, 'was wir Euch mitgebracht haben!' und aus dem unteren Raume des Bootes reichte er mir ein Kind herauf, ein Mädchen mit goldenen Ringellöckchen, lieblich anzusehen, wie ein Engel, sag' ich Euch. Im letzten Moment, als das Schiff schon im Sinken begriffen – so erzählte er – habe er das arme schreiende Ding einer Frauensperson, die zerschmettert und besinnungslos unter einem gestürzten Mast gelegen, aus dem Arm genommen. 'Da ist es nun,' fügte er hinzu, 'erbarmt Euch des armen Wurms!'“

Vater Claus schwieg einen Augenblick. Er nagte die Unterlippe, als wollte er eine innere Wallung niederkämpfen. Dann knöpfte er seinen Rock auf, als wenn es ihm zu warm geworden während des Sprechens, und zog die kühle Luft tiefathmend ein. Das nun offen stehende Flanell-Hemd gab seine hohe, nervige Brust frei; wie klopfte und hämmerte es da sichtbar hinter dem kräftigen Harnisch von Muskeln und Sehnen! War es die Erinnerung an einen schönen Tag seines Lebens, die das vielbewegte alte Seemannsherz so heftig schlagen ließ? War es das Gefühl des nahe bevorstehenden Verlustes, das sein Blut so erregte? In seinen wettergebräunten Zügen zuckte es heimlich, und sein Auge glänzte in feuchtem Schimmer.

„Wir hatten keine Kinder,“ fuhr er mit leiserer Stimme fort, „und die Kleine – sie mochte kaum zwei Jahre alt sein – streckte uns so freundlich die Arme entgegen – meiner Treu, war uns vom Himmel gesandt. Fuhren am andern Morgen der alte Matrose und der Schiffsjunge, gestärkt und mit Lebensmitteln ausgerüstet, mit dem Boote wieder davon. Da sagten wir ihnen – versteht sich von selbst – sie sollten nach Eltern und Verwandten des Kindes forschen, und wenn es zurückgefordert würde, melden, wo es zu finden sei, im Herzen aber – freilich, freilich! – wünschten wir, es möge Niemand kommen und nach unserem Kleinod fragen. Niemand kam, und so ist es geblieben – fünfzehn Jahre.“ Er erhob sich unruhig, und jeder Zoll an ihm war Erregung – es kämpfte sichtlich in seinen Mienen. „O, wie waren wir glücklich!“ sagte er nach einer Pause, „wahrhaftig, das Alter wird noch einmal jung durch die frische, lebendige Jugend, und unsere Insel ist so einsam, so einsam –“ er stockte plötzlich; in seiner Stimme war etwas wie verschluckte Thränen. „Potz Anker und Segeltuch!“ polterte er dann, wie Einer, der sich einer Schwäche bewußt wird. Er trat vom Felsblock fort und schlug ein lustiges Schnippchen. „Glaub' gar, mir ist Salzwasser in die Augen gekommen. Bah, ich alte Theerjacke und flennen wie ein Weib?! Pfui, Claus, schäme dich! Trolle dich, alter Junge, und rühre die Hände!“

Und ohne einen Gruß wandte er sich und ging schnellen Schrittes dem Strande zu. „Frisch drauf!“ rief er den Burschen zu. „Hämmert, daß die Funken stieben! Und morgen wird das Boot geprobt.“

„Wie werden sie es tragen,“ fragte Karin besorgt, als sein Schritt verhallt war, „wenn sie ihr Kind nicht mehr sehen, die armen alten Leute?! O, sie verlassen! Ich hätte es nicht gekonnt vor wenigen Tagen, eh' ich Dich sah, Du grausamer Mann. Karin ist nicht mehr Karin. Meine alte Welt ist versunken; meine Stimme klingt mir wie von fernher, als spräche ein Anderer.“ Sie verlor sich einen Augenblick in Gedanken; dann fragte sie weiter: „Sag', warum liebst Du mich nur?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 810. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_810.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)