Seite:Die Gartenlaube (1883) 203.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

als sonst in seiner übermüthigen Heiterkeit, und jetzt blitzte auch schon wieder ein Hoffnungsstrahl in seinem Auge, als er eindringlich fragte:

„Nun, mein Fräulein, haben Sie Ihr Versprechen gehalten? Bringen Sie mir irgend eine Hoffnung, irgend ein gütiges Wort von Ihrer Schwester?“

Das junge Mädchen schüttelte weise das Köpfchen:

„Aber, Herr von Werdenfels, das geht doch nicht so schnell! Anna hat einen sehr festen Charakter, sie ist nicht so leicht umzustimmen. Ich habe allerdings mit ihr gesprochen.“

„Haben Sie das wirklich gethan? O, Sie sind ein Engel an Güte!“ rief Paul enthusiastisch.

Lily war sehr angenehm berührt durch das Compliment. Das klang ganz anders, als wenn sie hören mußte: „Kind, das verstehst Du nicht!“ Sie hätte jetzt um keinen Preis ihre Niederlage eingestanden und war entschlossen, die Rolle des Schutzengels auf alle Fälle durchzuführen. Sie begann daher, dem jungen Manne aus einander zu setzen, daß er Geduld haben müsse, daß noch keineswegs alles verloren sei, und glaubte dabei sehr klug zu Werke zu gehen, aber Paul ließ sich nicht täuschen. Er that einige rasche Fragen, die Lily in der Ueberraschung ganz aufrichtig beantwortete, und diese Antworten verriethen ihm die Wahrheit. Sein eben noch so hoffnungsfreudiges Gesicht verdüsterte sich von Neuem.

„Geben Sie sich keine Mühe, mich zu schonen, mein Fräulein,“ sagte er bitter. „Ich sehe deutlich, was Sie mir verbergen wollen. Frau von Hertenstein bleibt unerbittlich bei ihrem Nein, und ich – bin der Verzweiflung preisgegeben.“

Er faßte heftig den Kolben seiner Flinte, es war eine ganz unwillkürliche Bewegung, aber Lily schrie entsetzt auf und ergriff seinen Arm.

„Thun Sie das nicht, Herr von Werdenfels! Um Gotteswillen, thun Sie das nicht!“

„Was denn?“ fragte Paul betroffen. „Was soll ich nicht thun?“

„Sich erschießen!“ schluchzte das junge Mädchen. „Und das wollen Sie hier vor meinen Augen vollführen? O, es ist schrecklich!“

Paul entsann sich jetzt erst jener Aeußerung, die er damals in der ersten Aufwallung des Schmerzes gethan hatte. Er sah, daß sie für Ernst genommen wurde, und die Angst um sein Leben rührte ihn. Er versuchte daher, die Erschrockene zu beruhigen, aber vergebens, sie traute seinen Versicherungen nicht.

„Sie werden es im Schlosse thun, wenn ich Sie jetzt daran verhindere!“ sagte sie. „Geben Sie mir die Flinte.“

„Aber mein Fräulein!“ warf Paul ein.

„Geben Sie mir die Flinte!“ wiederholte Lily befehlend, und als er nun wirklich dem Befehl nachkam, faßte sie einen heroischen Entschluß. Sie ergriff mit beiden Händen das Mordgewehr, trug es vorsichtig einige Schritte weit, bis zu dem Graben, der sich am Fuße des Schloßberges hinzog, und warf es mit voller Gewalt hinein. Die dünne Eisdecke des Wassers zerbrach, und Lily sah mit großer Befriedigung, wie das Gewehr untersank. Jetzt war ihrer Meinung nach das ganze Unheil beseitigt, es fiel ihr gar nicht ein, daß der junge Baron noch andere Schußwaffen haben könnte, und im Gefühl dieser Sicherheit stellte sie sich vor ihn hin und begann ihm eine nachdrückliche Rede zu halten. Sie führte ihm die Gottlosigkeit seines Beginnens zu Gemüthe, sprach von der zeitlichen und ewigen Verdammniß eines Selbstmörders und drohte ihm schließlich mit den Höllenstrafen.

Paul stand vor ihr und hörte mit immer steigender Verwunderung zu. Er begriff gar nicht, wie das junge Mädchen zu all diesen salbungsvollen Worten kam, denn er konnte natürlich nicht wissen, daß es eine Predigt Gregor Vilmut’s war, die dieser kürzlich über ein ähnliches Thema gehalten hatte, und die Lily frei aus dem Gedächtniß hersagte. Da die Höllenstrafen aber keinen sonderlichen Eindruck auf ihn machten, so unterhielt er sich damit, die jugendliche Predigerin anzusehen und Vergleichungen zwischen ihr und ihrer Schwester anzustellen.

Das frische, rosige Gesichtchen sah in der dunklen Pelzumhüllung allerliebst aus, und bei jenem heftigen Wurfe war eine der langen Flechten über die Schulter gefallen. Es waren reiche Flechten, von schöner hellbrauner Farbe, aber wo blieb der wunderbare Glanz, der wie ein zarter Goldschimmer auf jenem anderen Haar ruhte! Und was waren diese hellen Kinderaugen gegen die großen strahlenden Sterne, welche sich unter jenen langen Wimpern entschleierten! Gerade diese Vergleichung zeigte dem jungen Manne, was er verlor, und sein Schmerz erwachte aufs Neue. Er seufzte tief auf, als die Predigt zu Ende war, und sagte:

„Sie kennen die Liebe nicht, mein Fräulein! Sie wissen nicht, was es heißt, am Rande der Verzweiflung zu stehen!“

Das wußte Lily nun allerdings nicht, aber sie konnte sich denken, daß es etwas sehr Trauriges sei, und ging deshalb schleunigst vom Predigen zum Trösten über. Paul zeigte sich nicht ganz unzugänglich dafür, er ließ sich trösten und die Beiden waren im eifrigsten Gespräch begriffen, als ein Herr in dunkem Mantel zwischen den Bäumen sichtbar wurde.

„Mein Onkel!“ sagte Paul überrascht, denn es war das erste Mal, daß der Freiherr hier das Schloß verließ. Lily erschrak, sie kämpfte zwischen Furcht und Neugier, den Vielgenannten, das „Ungethüm von Felseneck“, endlich einmal von Angesicht zu sehen; während sie schwankte, ob sie fortlaufen oder Stand halten solle, war Werdenfels bereits hervorgetreten. Auch er schien überrascht, seinen Neffen in Gesellschaft einer jungen Dame zu erblicken, aber man sah es, daß ihm die Begegnung mit einer Fremden unangenehm war.

„Du hier, Paul?“ sagte er mit kühlem Gruße.

„Ich traf ganz zufällig mit Fräulein Vilmut zusammen,“ versetzte Paul, dem daran lag, das junge Mädchen vor Mißdeutungen zu schützen. „Sie ist heute zum Besuch im Pfarrhause von Werdenfels.“

Raimund wurde aufmerksam, es gab nur eine Familie dieses Namens in der Umgegend, und er wußte, daß Anna eine jüngere Schwester hatte. Er richtete einen forschenden Blick auf das Gesicht des jungen Mädchens und trat rasch auf sie zu.

Dieser Blick aber und diese Annäherung waren zu viel für den Aberglauben Lily’s. All jene schrecklichen Geschichten von dem Teufelswerk und dem Halsumdrehen, womit sich der Freiherr bekanntlich abgab, wurden wieder lebendig. Sie schien für ihren eigenen Hals zu fürchten, denn sie flüchtete eiligst hinter Paul’s Rücken und blickte mit einer solchen Herzensangst zu Werdenfels hinüber, daß der junge Mann in die peinlichste Verlegenheit gerieth.

Raimund blieb stehen, und ein Ausdruck tiefster Bitterkeit zuckte um seine Lippen bei dieser so deutlich kund gegebenen Furcht.

„Fürchten Sie nichts, mein Fräulein,“ sagte er kalt. „Sie brauchen nicht so angstvoll bei meinem Neffen Schutz zu suchen. Ich werde Sie sofort von meiner Nähe befreien!“ Damit wandte er sich um und schritt tiefer in das Gehölz hinein.

Als er eine Strecke entfernt war, kam auch Lily wieder hinter ihrem Beschützer zum Vorschein. Sie sah noch etwas zaghaft aus und fragte kleinlaut:

„Ich habe mich wohl sehr dumm benommen?“

Paul war im Grunde derselben Meinung, aber er sprach das natürlich nicht aus, sondern fragte nur:

„Aber weshalb fürchten Sie denn meinen Onkel so sehr? Sie taten schon einmal eine derartige Aeußerung, die ich mir nicht erklären konnte.“

„Ich habe ihn mir eigentlich weit schrecklicher gedacht,“ meinte Lily. „Er sieht ganz aus wie ein Mensch, bis auf die Blässe in seinem Gesicht.“

„Aber wie soll er denn aussehen?“ rief Paul beinahe ärgerlich. „Wofür halten Sie denn eigentlich den Freiherrn?“

Lily sah zu Boden; der junge Baron wußte offenbar nichts von all jenen unheimlichen Gerüchten, und sie konnte ihn doch unmöglich darüber aufklären. Sie brach deshalb ab und sprach ihre Absicht aus, zu gehen.

„Und Sie wollen wirklich gehen, ohne mir auch nur einen Hoffnungsschimmer zurückzulassen?“ fragte Paul, wieder ganz verzweiflungsvoll.

„Was kann ich denn thun?“ sagte das junge Mädchen betrübt. „Sie sind ja selbst der Meinung, daß meine Schwester bei ihrem Nein bleiben wird.“

„Ich brauche aber Trost in meinem Unglück,“ erklärte Paul mit großer Bestimmtheit, „und Ihre Tröstungen haben mir so unendlich wohl gethan. Wenn ich Sie für’s Erste nicht wiedersehen soll, darf ich Ihnen doch wenigstens schreiben?“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_203.jpg&oldid=- (Version vom 27.12.2023)