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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

„Wollt Ihr fünfzehn Mark geben, da laß ich Euch den Bock gleich hier und Ihr könnt ihn Muttern mitnehmen – kriegt sonst doch keinen!“

Im Mondlicht erkannte der also Angeredete einen bekannten Wilddieb aus der Gemeinde, von der er die Jagd gepachtet hatte, der Bock war natürlich in seiner Jagd frisch geschossen; verblüfft über solche bodenlose Frechheit hatte er noch keine Worte gefunden, als der Wilderer mit seiner Beute schon an der nächsten Waldecke verschwunden war.

O. von Riesenthal.




Die „G. F. S.“

Von Marie Calm.

An einem schönen Sommernachmittage ging ich mit einem jungen Mädchen durch die Straßen Londons. Es war die Höhe der Saison. Die Menge eleganter Equipagen, welche die breiten holzgepflasterten Straßen entlang flogen, der Strom der Passanten, der auf und nieder wogte, der Glanz der Läden, welche ihre reichste Pracht entfalteten, hatten etwas Berauschendes. Ich liebe es, diese Pulsadern des Lebens klopfen zu hören, liebe es auch, die mannigfaltigen Producte der Natur und Cultur hinter den riesigen Schaufenstern zu bewundern.

Irgend ein Gegenstand erregte meine Kauflust, und ich bat meine Begleiterin, mit mir in den betreffenden Laden einzutreten. Etwas befangen sah sie nach ihrer Uhr und erwiderte dann, sie bedauere, meinen Wunsch nicht erfüllen zu können, denn es sei schon halb Sieben, und sie gehöre zu dem „Sechs-Uhr-Schließ-Verein“.

Verwundert über diesen sonderbaren Titel blickte ich sie fragend an, und sie erklärte mir nun, daß jener Verein sich die Aufgabe gestellt habe, das Loos der Verkäuferinnen zu erleichtern, indem er darauf antrüge, alle Modehandlungen um sechs Uhr zu schließen. Dadurch, meinte sie, würden die armen shop-girls Zeit bekommen, ihre Mahlzeit mit den Ihrigen einzunehmen und einen Spaziergang zu machen, während sie jetzt meist bis acht, oft bis zehn Uhr um Platze sein müssen.

„Wir haben schon,“ fuhr sie fort, „bewirkt, daß sie sich setzen dürfen, wenn sie gerade keine Kunden bedienen, denn das fortwährende Stehen ist erwiesenermaßen sehr schädlich; hoffentlich setzen wir auch das frühere Schließen der Läden durch und sichern ihnen so ein menschenwürdiges Dasein!“

Ich gestehe, daß in die Verwunderung, mit der ich meiner jungen Freundin zuhörte, sich ein Gefühl von Bewunderung mischte. Sie mochte achtzehn bis neunzehn Jahre zählen, war ein hübsches, blühendes Mädchen – und sprach so warm und so einsichtsvoll von diesen humanen Bestrebungen! Es war mir wieder ein Beweis – wie ich deren schon viele erhalten – daß bei den englischen Frauen der Gemeinsinn außerordentlich gepflegt wird. Weniger beansprucht durch die Privatinteressen des Hauswesens, als unsere Frauen, können sie ihre Gedanken, wie ihre Zeit und Kräfte, mehr den allgemeinen Interessen widmen und zeigen dafür im Allgemeinen warme Theilnahme und einen raschen, praktischen Blick.

Daß in einem Lande, wo Wohlthätigkeitsanstalten fast ganz Privatsache sind, die Wohlthätigkeitsvereine in höchster Blüthe stehen, läßt sich denken. Ich glaube, es giebt wenige Frauen, die nicht zu einigen derselben gehören. Eine sehr große Anzahl unterrichten in den Sonntagsschulen, die indeß jetzt wohl abnehmen werden, seitdem die Governmental schools, die Staatsschulen, jenen oft sehr kläglichen Behelf weniger nöthig machen; Andere gehören einem Verein an, der sich die Ergründung der Verhältnisse der Bittsteller zur Aufgabe macht, um sie in zweckmäßiger Weise unterstützen zu können, oder sie helfen gemeinnützige Schriften verbreiten; noch Andere halten „Mothers’ meetings“ ab, das heißt Zusammenkünfte mit armen Frauen, welche sie über die physische und sittliche Erziehung ihrer Kinder zu belehren suchen; und Viele sind Mitglieder der „G. F. S.“

Die „G. F. S.“! Ich hatte den Ausdruck schon öfter gehört, ohne ihn zu verstehen. Als ich mich darnach erkundigte, wurde mir erklärt, die „G. F. S.“ sei „the Girls’ Friendly Society“ – „Der Verein der Freundinnen der jungen Mädchen“.

Das ist ein langer Titel, und die praktischen Engländer, für welche „time is money“ („Zeit ist Geld“), haben selbst in den langen Sommertagen nicht Zeit, ihn ganz auszusprechen. Wie sie ihre Titulaturen meist nur mit Initialen bezeichnen – ich erinnere an das M. P., Member of Parliament, das M. A., Master of Arts, ja selbst das H. M., womit Her Majesty sich begnügen – so reduciren sie auch die oft sehr umständlichen Namen von Vereinen auf die Anfangsbuchstaben. So ist die Abkürzung „G. F. S.“ unter allen Mitgliedern des genannten Vereins gebräuchlich, auch in den Berichten wird sie angewendet, und bei feierlichen Versammlungen habe ich sie von den Rednertribünen herab gehört.

Diese „G. F. S.“ also ist ein Verein, der im Jahre 1875 gegründet wurde, um jungen Mädchen in dienstlichen Stellungen einen Schutz zu gewähren. In dem großen Labyrinthe Londons, wie in anderen großen Städten, und besonders den Fabrikorten Englands treiben Tausende von jungen Mädchen sich umher, die, dem elterlichen Hause entwachsen, ihr Brod durch eigene Arbeit zu verdienen suchen, es aber häufig nicht finden, häufig auch durch Krankheit, durch Versuchungen aller Art in Noth und Elend gerathen. Wie Viele versinken nicht widerstandslos in den brausenden Wogen jener Städte, die hätten gerettet werden können, wenn zur rechten Zeit eine hülfreiche Hand sich ihnen dargeboten, zur rechten Zeit ein freundlich mahnendes Wort an ihr Ohr und Herz gedrungen wäre! Mögen nachher die Hospitäler, die Arbeitshäuser, die Magdalenen-Stifte sich ihnen öffnen – es ist dann das gebrochene Geschöpf, das man noch zu heilen sucht, während man früher den Sturz vielleicht hätte verhüten können.

Deshalb nun haben sich in allen Orten Englands Damen verbunden, um sich der ihr Vaterhaus verlassenden Mädchen anzunehmen. Ob sie als Dienerinnen in ein fremdes Haus eintreten, ob sie Verkäuferinnen in Läden werden, oder in Fabriken arbeiten, die Dame, welche sich einmal verpflichtet hat, das Mädchen in ihren Schutz zu nehmen, ihre Freundin zu sein, behält sie im Auge. Bei den Dienstmädchen ist dieser Schutz nur dann nöthig, wenn sie ihre Stelle wechseln oder krank werden, denn man nimmt an, daß die Herrin stets die beste Freundin der Dienerin ist, und die Regeln des Vereins verbieten ausdrücklich, die Mädchen in den Häusern, wo sie in Dienst stehen, aufzusuchen oder sich irgendwie in ihre Dienstangelegenheiten zu mischen. Aber für die in Fabriken und Werkstätten beschäftigten Mädchen kann dieser Schutz jederzeit von großem Nutzen sein. Es sind von Seiten des Vereins besondere Personen angestellt, um diese Mädchen aufzusuchen und Erkundigungen über sie einzuziehen. Man findet sie in den verschiedensten Gewerben beschäftigt. Außer in den gewöhnlichen Stellungen als Nähterinnen, Schneiderinnen, Putzmacherinnen sind sie als Buchbinderinnen thätig, als Federschmückerinnen, Goldspitzen- und Franzenverfertigerinnen, in Cigarrenfabriken, Seidenwebereien, als Schuhmacherinnen, Packerinnen, Maschinistinnen etc.

Für diese Mädchen, die mehr oder weniger alle unter die gemeinsame Bezeichnung „Fabrikmädchen“ kommen – ein Titel, der die Verwildertsten und Rohesten des Geschlechts in sich schließt – ist es nun etwas Großes, in Verbindung mit einer Dame zu stehen, von der sie wissen, daß sie sich für sie interessirt, daß sie in der Noth ihnen beistehen wird, wenn sie selbst sich nur brav und ordentlich halten; etwas Großes, durch die Abendschulen des Vereins Gelegenheit zu haben, sich weiter zu bilden; etwas Großes auch, von Zeit zu Zeit am Sonntag Nachmittage in einem netten Locale mit anderen Mädchen ihres Alters zusammen zu treffen, ihren Thee einzunehmen und eine belehrende oder unterhaltende Lecture anzuhören. Natürlich ist das religiöse Element bei diesen Zusammenkünften auch vertreten – ein Factor, der, richtig angewandt, sehr segensreich wirken kann.

Da nur solche Mädchen in den Verein aufgenommen werden, welche sich als brav und sittlich ausweisen können, so darf man einerseits hoffen, daß der gegenseitige Einfluß ein guter sein wird, andrerseits sehen die Mädchen in Folge dessen eine Ehre darin,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 275. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_275.jpg&oldid=- (Version vom 30.12.2023)