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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

No. 23.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Alle Rechte vorbehalten.

Gebannt und erlöst.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Eine halbe Stunde später trat Werdenfels aus dem Schlosse auf die Terrasse, wo Emir bereits gesattelt seiner harrte. Der Freiherr pflegte meist um diese Zeit auszureiten, heute aber schien es der Dienerschaft aufzufallen, sie steckte flüsternd die Köpfe zusammen, und selbst der Haushofmeister, der sich gleichfalls auf der Terrasse befand, hatte seine sonst so feierlich unbewegte Miene fahren lassen und hörte mit offenbarer Besorgniß den leisen Berichten seiner Untergebenen zu.

Beim Erscheinen des Freiherrn löste sich die Gruppe mit ehrerbietiger Verneigung auf, nur der Haushofmeister näherte sich seinem Herrn.

„Sie wollen ausreiten, gnädiger Herr?“ fragte er ehrfurchtsvoll, aber doch mit einer gewissen Betonung.

Werdenfels blieb stehen und sah ihn befremdet an.

„Gewiß, ich thue das ja stets am Nachmittage.“

„Aber gerade heute – es herrscht eine gewisse Aufregung in Werdenfels – und der junge Herr Baron, der Sie sonst immer begleitet, ist abwesend.“

„Um so besser,“ sagte Raimund ruhig. „Mein Neffe kann bei solchen Gelegenheiten sein junges heißes Blut nicht zügeln, und dort ist Ruhe das erste Erforderniß.“

Er gab dem Reitknechte einen Wink, das Pferd herbeizuführen. Der Haushofmeister zögerte, aber die Sorge um seinen Herrn überwog seine sonstige Zurückhaltung, und er fuhr in bittendem Tone fort:

„Ich maße mir nicht an, dem gnädigen Herrn einen Rath ertheilen zu wollen, aber die Stimmung im Dorfe ist wirklich im höchsten Grade bedrohlich. Man ist wüthend darüber, daß die Uebelthäter von heute Nacht ergriffen und in Gewahrsam gebracht worden sind, man will nicht dulden, daß sie bestraft werden. Zeigen Sie sich heute nicht, Herr Baron – nur heute nicht! Sie kennen ja die Werdenfelser!“

„Ja, ich kenne sie!“ entgegnete der Freiherr, während er den schlanken Hals Emirs streichelte, der ihn mit freudigem Wiehern begrüßte. „Aber es ist endlich Zeit, daß auch sie mich kennen lernen.“

Er schwang sich auf das Pferd und nahm die Zügel, der Haushofmeister machte noch einen letzten Versuch.

„Aber der Reitknecht darf doch wenigstens folgen?“ bat er. „Der junge Herr Baron ist auch der Meinung, daß –“

„Ich reite allein,“ unterbrach ihn Werdenfels in einem Tone, der keinen ferneren Widerspruch duldete, dann aber fügte er mit einem Blicke auf das angstvolle Gesicht des alten Mannes milder hinzu:

„Aengstigen Sie sich nicht, es ist kein Grund zur Sorge vorhanden, und ich werde bald zurück sein.“

Der Haushofmeister trat zurück, er kannte diesen Ton und fügte sich ihm unbedingt, aber er blickte mit schwerem Herzen dem Freiherrn nach.

Werdenfels ritt langsam die Allee hinunter, die vom Schloßberge in das Dorf führte. Er wußte, daß in der That Grund zur Sorge vorhanden war, das Erscheinen Vilmut’s im Schlosse hatte es ihm hinreichend gezeigt, aber er wußte auch seit jener Unterredung mit Eckfried, daß seine bisherige Nachsicht als Furcht und Feigheit ausgelegt wurde. Diese Menschen hatten ja kein Verständniß für einen Muth, der mit kalter, unerschütterlicher Ruhe ihren Beleidigungen und Angriffen gegenüberstand, ohne sie zu rächen, für sie lag der Begriff der Energie nur in jener rücksichtslosen Härte, die ihnen einst der verstorbene Freiherr gezeigt hatte. Dem wagte Niemand mit einer Beleidigung zu nahen, so verhaßt er auch war, denn man wußte, daß die schärfste Ahndung auf dem Fuße folgen werde. Gegen den Sohn aber erlaubte man sich Alles, und wenn es bisher noch nicht zu einem offenen Angriffe gegen ihn gekommen war, so dankte er das nur dem Aberglauben, der ihm übernatürliche Macht zuschrieb.

Diese Gedanken waren es, die durch Raimund’s Seele zogen und seine Stirn so finster machten. Er hatte jetzt die ersten Häuser des Dorfes erreicht und ritt an dem Garten des Pfarrhauses entlang, der noch in winterlicher Oede dalag, als er das schmerzliche Weinen einer Kinderstimme vernahm und einen etwa fünfjährigen Knaben gewahrte, der an der Hecke des niedrigen Gartenzauns kauerte und so laut und krampfhaft schluchzte, als ob ihm das kleine Herz brechen wollte. Werdenfels pflegte sonst nie die Dorfkinder anzureden, denn er wußte, daß sie ihn flohen und fürchteten, aber dies trostlose Weinen des einsamen und verlassenen Kleinen fand ein Echo in seiner Seele. Halb unwillkürlich hielt er sein Pferd an, beugte sich über die Hecke und fragte:

„Weshalb weinst Du, Kind?“

Der Kleine hob beim Klange der fremden Stimme erschrocken den blonden Krauskopf empor und zeigte ein verweintes Gesicht und große blaue Augen, in denen noch die hellen Thränen standen. Er kannte den fremden Herrn nicht und hielt ihn wohl für einen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 365. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_365.jpg&oldid=- (Version vom 4.1.2024)