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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

ist mir das Schlimmste nicht widerfahren! Ich muß noch immer erwarten, daß mich ein entsetzlicher Schlag trifft, den ich nur ahne, vor dessen Eintreffen ich aber jetzt schon zittere.“

Welcher Schlag dies sein könne, läßt aus späteren Briefen an Adelheid Bernhardt sich nur ahnen. Hedwig hatte, noch sehr jung, sich mit Reicher, Schauspieler am Gärtnerplatztheater, vermählt, eine Ehe, die ihren Vater in Sorgen und Trauer versetzt haben soll. Sie gebar einen Sohn, ihren „Franzl“, an dem sie mit aller Liebe ihres leidenschaftlichen Herzens hing bis zu ihrem letzten Augenblick. Während dieser Münchener Zeit ist noch kein Schatten über ihrer Ehe zu bemerken. Sie schreibt um diese Zeit an die Freundin: „Seit ich von meinem theuren Mann fort bin, lebe ich nicht mehr, ich vegetire nur!“ Später (im December) meldet sie: „Mein Manderl hat Engagement in Weimar, Erfurt, Eisenach. Ich bin sehr glücklich darüber.“ Im Januar 1879 schreibt sie: „Ich trachte jetzt einen zehnjährigen Vertrag zu erhalten mit Gatten und mit zwei oder drei Monaten Urlaub.“ Und im Juni 1879: „Wirke für meinen Mann eine schöne Stellung aus, Berlin, Leipzig, Dresden, dadurch machst Du mich glücklich.“

Schließlich (wohl 1882) wurde die Ehe doch getrennt, aber so wunderliche Herzen waren beide, daß sie kurz nach der Scheidung den Wunsch gehegt haben sollen, nach einem Jahre still sich wieder zu vereinigen. Das Kind war durch das Gericht dem Vater zugesprochen worden; doch davon später.

Aus den Münchener Briefen müssen noch einige für die Kenntniß von Hedwig’s Seelenleben bedeutende Stellen hier mitgetheilt werden. Am 8. December 1878 schreibt sie der Freundin: „Baron von Perfall ist mir der gütigste Vater. Er hat mich in sein Herz geschlossen, weil er mich kennt, und er hilft mir aus meiner schlimmen Lage! – Ich vergesse es ihm nie! Ewig werde ich ihm dankbar dafür sein! Ich reiche ihm meine Kunst dafür, es ist ja das Einzige, was ich wirklich mein nennen darf.“

Ein glücklicher Augenblick dictirte ihr (am 28. Juni 1879) die Worte: „Meine Ortrud ist mit kolossalem Erfolge vorbei, ich habe schön gesungen, gespielt und ausgeschaut, so sagt man mir wenigstens.“

Aber nur zwei Tage später eröffnet sie uns einen erschreckenden Einblick in ihr Inneres: „Meine Ortrud-Leistung,“ meldet sie der Freundin, „ist Seiner Majestät durch seinen Secretär und Regierungsrath Bürkel bekannt gemacht worden, ich bin heute zu Bürkel bestellt und stürze mich tout-de-suite en grande toilette. Wie gut, daß ich noch hier bin und höchstwahrscheinlich hier bleibe, obwohl ich schwere Ahnungen habe und die Folgen dieses Hierbleibens eine unabsehbare Reihe von Kummer und Herzweh sein wird. Ich werde eine große Künstlerin werden, wenn ich so weiter meinem inneren Leben folge, ich werde die Mitmenschen durch die Gewalt meiner Töne, durch das Gefühl hinreißen, begeistern, mein Herz aber wird von eben diesen Menschen zerrissen. Ich weiß, daß Du mich für närrisch hältst, nachdem Du diesen Brief gelesen. Immer glauben die Leute dasjenige für wahnsinnig, was sie nicht mehr begreifen. Ich lasse nur meine Seele sprechen, bringe die tausend Stimmen zu Papier, die in mir sich mächtig hören lassen. Ich muß all meine Geistes- und Körperkräfte zusammenraffen, um nicht wieder meinen unheilvollen Geistern zu verfallen, die mich peinigen, verfolgen.“

Und abermals zwei Tage darnach: „Ich erwarte meinen Mann mit Franzl! Hab’ ich nur erst meinen Bubi wieder!“

Im October desselben Jahres ist Hedwig in Paris. „Ich bin im Begriff, eine große Karriere zu machen,“ jubelt sie am 29. Sie hatte beim Probesingen an der Großen Oper so gefallen, daß ihr ohne Gastspiel sofort ein Antrag gestellt wurde. „Ich habe einen dreijährigen Vertrag abgeschlossen, man lobt vor Allem meine auffallend schöne Aussprache im Singen!“ – Aber diese Stellung konnte sie so wenig antreten, wie die am 8. April 1880 von Mailand angezeigte, von wo sie schrieb: „Hier sitze ich als Cantatrice della Scala, engagirt für drei Saisons, im Frühjahr mache ich meine erste Tour nach Amerika, Buenos-Ayres für 60,000 Franken und Benefiz in fünf Monaten.“ Aus Gesundheitsrücksichten mußte sie alle diese lachenden Pläne aufgeben und nach München zurückkehren, von wo sie am 26. April der Freundin mittheilt, daß sie seit ihrer Pariser Reise an einem constanten nervösen Schmerz leide. „Ich litt unsäglich und habe buchstäblich seit October keine Nacht geschlafen, der Schmerz wuchs, der Zustand drohte verhängnißvoll für meisten Beruf zu werden.“ Trotz alledem blieb auch jetzt noch guter Rath von ihr unbeachtet, denn der Brief schließt mit den Worten: „Mein Doctor kommt, wenn er mich schreiben sieht, wird er böse!“ -

Wenige Monate später begrüßen wir sie in Leipzig. Hier, wo damals unter der Oberleitung Angelo Neumann’s die Oper zu seltener Kunsthöhe emporblühte, stieg auch Hedwig Reicher-Kindermann wie im Sturme zur Höhe ihrer Leistungsfähigkeit und ihres Ruhmes hinan. In kurzer Zeit hatte sich das ehrendste gegenseitige Verhältniß zwischen dem Publicum und ihr gebildet: sie belohnte die aufrichtige Bewunderung der Leipziger mit ihrer innigen Zuneigung und Liebe: ihre „große Familie“ nannte sie dieselben, und die Stadt war ihr so theuer, wie eine zweite Vaterstadt.

Nachdem unsere Künstlerin auf ihrem öffentlichen Lebensgange bis hierher geführt ist, gestatten mir nun die Leser, sie auch in die hiesige Häuslichkeit derselben zu führen, indem sie einem Besuche dorthin folgen. Bei einer solchen Größe sind auch kleine Beobachtungen ihrer Persönlichkeit und Umgebung der Theilnahme werth.

Vor mehr als Jahresfrist war es mir vergönnt, die nun geschiedene Künstlerin persönlich kennen zu lernen, und ihr Bild hat sich mir, sowie Allen, die sie gekannt, unauslöschlich eingeprägt. – Es war an einem Nachmittage des April vorigen Jahres, als ich mit meiner Freundin, die Frau Kindermann Grüße von einer ihrer Schwestern bringen sollte, an der einfachen, aber bekränzten Thür der Wohnung am Schletterplatz klingelte. Ein weißes Schild an der Thür zeigte die Inschrift: „Hedwig Reicher-Kindermann, Opernsängerin.“ Ein sauberes Dienstmädchen öffnete und ließ uns eintreten. In dem kleinen Vorsaal standen Schränke, auf denen eine Menge verdorrter Bouquets lagen. Das Mädchen führte uns in ein nicht sehr großes Zimmer, das in seiner originellen Drapirung der Wände mir unvergeßlich ist. Zahllose Lorbeerkränze schmückten das Heim der Künstlerin, sie bedeckten die Wände des Zimmers vollständig, hingen über dem Claviere und lagen auf demselben. Große Bilder der Künstlerin, sie als Isolde, Brunhilde, Carmen etc. darstellend, hingen an den Wänden, vom Lorbeer fast verdeckt, oder lagen auf Stühlen, eines lehnte sogar am Ofen. Blumen schmückten die Fenster, alles blühte und duftete.

Während wir noch unsere Umgebung betrachteten, ging die Thür leise auf, und Hedwig Kindermann erschien auf der Schwelle. Ein dunkelblauer Schlafrock, mit bunten Kanten verziert, umhüllte die hohe Gestalt. Das dunkle Haar war schlicht zurückgestrichen. Zuerst war die Künstlerin furchtbar stolz und unnahbar. Sie nötigte uns, Platz zu nehmen, und setzte sich dann zu uns. Ich saß dicht neben ihr und hatte Muße, denn ich brauchte ja die Grüße nicht zu bestellen, das schon gezeichnete Profil in der Nähe zu betrachten. Frau Kindermann hörte, zuweilen mit dem Kopfe nickend, ernst und schweigsam auf Das, was meine Freundin vorbrachte. Mir wurde dieser starren Ruhe gegenüber ganz unheimlich zu Muthe, und ich wäre am liebsten davon gelaufen. Wie bald änderte sich jedoch mein Sinn, denn plötzlich wurde sie eine Andere, ein ganz anderes Wesen, und ich saß, wie gebannt von der bezaubernden Liebenswürdigkeit der berühmten Sängerin, nun um so fester!

Ich wundere mich heute noch, woher Frau Hedwig Kindermann so plötzlich das Vertrauen nahm, mit dem sie uns, die ihr Fremden, von denen sie kaum den Namen wußte, nun in ihr Leben einweihte. Das Herz mußte ihr doch ganz voll davon sein, sodaß ein Ausströmen desselben ihr eine Wohlthat war. Vieles von dem oben Dargelegten, das mir freilich damals größtentheils unbekannt war, teilte sie nun so süß plaudernd, so offen und treuherzig mit, daß ich mich in eine ganz wunderbar gehobene Stimmung von Trauer, innigster Theilnahme und tiefer Ehrfurcht versetzt fühlte.

Sie erzählte uns mit ihrer tiefen, melodischen Stimme von ihrem guten Vater, ihrer todten Mutter, ihren Schwestern, ihrem Gatten und dem Kinde. Ihre Heirath mit Reicher erwähnte sie nur kurz, und ihre Stimme zitterte, als sie voll Wehmuth hinzufügte: „Mein Vater sagte damals zu mir: damit hast Du mir den größten Schmerz angethan!“

Am aufgeregtesten wurde sie, als sie von ihrem Kinde erzählte! Wie würde ich erst von ihrer Klage ergriffen worden sein, wenn ich damals schon den Brief gekannt hätte, den sie wenige

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 490. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_490.jpg&oldid=- (Version vom 28.1.2024)