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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

Leichen der Herzöge und ihrer Familienmitglieder zeugt noch von längst verschwundener Pracht.

Libau und Mitau sind die bedeutendsten Städte Kurlands; die übrigen sind von weit geringerer Größe und Bedeutung. Kurz mögen noch Goldingen, die frühere zweite Residenz, und Windau erwähnt werden; letzteres, an der Mündung der Windau gelegen, ist der zweite Seehafen Kurlands, dem durch gute Eisenbahnverbindung mit dem großen Reiche vielleicht noch ein ähnlicher Aufschwung bevorsteht wie Libau. Schon einmal hat Windau in der Geschichte Kurlands eine bedeutende Rolle gespielt. Hier hat nämlich Herzog Jakob (1642 bis 1681), glorreichen Andenkens, jener geniale Fürst, der zu groß für sein kleines Land war, eine Flotte von vierundvierzig wohlausgerüsteten, mit über vierzehnhundert Kanonen versehenen Kriegsschiffen und über sechszig Handelsschiffen gebaut, armirt und von Stapel laufen lassen; von hier aus fuhren die kurischen Handelsschiffe unter sicherem Geleit nach seinen Colonien und Factoreien an der Küste von Guinea und auf der Antillen-Insel Tabago; doch die Herrlichkeit dauerte nicht lange und die kurische Flagge, der schwarze Krebs auf rothem Grund, verschwand nach kurzer Existenz für immer aus den Gewässern des Weltmeeres.

Aber das echte kurische Leben spielt sich nicht im Schooße der Städte ab, sondern auf dem Lande, und kaum ein Fünftel der Bewohner Kurlands befindet sich in den Städten. Was Tacitus von den alten Germanen sagt: „Sie wohnen zerstreut und getrennt, wie gerade ein Quell, ein Feld, ein Gehölz zur Siedelung ladet“ – das paßt noch heute auf Kurland, das hierin mit Westfalen, dem Stammlande seiner meisten Adelsgeschlechter, Aehnlichkeit hat.

Dörfer sind hier unbekannt, mit alleiniger Ausnahme von Dondangen und der sieben Freidörfer der sogenannten kurischen Könige in der Goldingenschen Gegend, die schon seit der Ordenszeit 1320 in unabhängigem, erblichem Besitze ihrer bäuerlichen Ländereien sind und sich von den übrigen lettischen Bauern streng abscheiden und fernhalten. Schon Hippel sagt: „Ueberhaupt scheinen die Kurländer zu keiner Stadt Lust und Liebe zu haben. Sie gehören auf’s Land, wo sie auch Geschmack anzubringen wissen.“

Die Richtigkeit dieses letzteren Satzes bestätigt man gern, wenn man so stattliche und schön gehaltene Schlösser und Rittergüter wie Zieren, Katzdangen, Autz, Edwahlen etc. zu Gesicht bekommt. Sind auch nicht alle Güter so groß wie Dondangen am Eingang des Rigaschen Meerbusens, das mit seinen sechszehn Quadratmeilen das Fürstenthum Schwarzburg-Sondershausen übertrifft, freilich aber bei weitem nicht den zehnten Theil von dessen Einwohnern aufweist – so sind doch die meisten Güter von so respectablen Dimensionen, daß sie in Deutschland auffallen würden.

Hier auf den einsamen Edelhöfen, fern vom Getriebe der Städte und in innigem Zusammenleben mit der Natur des kalten, nordischen Klimas, entwickelt sich der Kurländer zu jener Originalität und Eigenartigkeit seines Wesens, die ihn ebenso sehr von der gesellschaftlich und diplomatisch feineren Art des Livländers, wie von der etwas sentimental und künstlerisch anlegten Natur des Esthländers unterscheidet und die uns in ihrer kraftvollen Unmittelbarkeit, in ihrer urwüchsigen Derbheit, in ihrer beinahe unerschöpflichen Lebenskraft an Gestalten längst verschwundener Zeiten gemahnt.

Wenn hier von Kur-, Liv- und Esthländern die Rede ist, so sind damit die baltischen Deutschen, die Nachkommen der zu Ordenszeiten und seither eingewanderten Colonisten zu verstehen, welche bei all ihrer unverbrüchlichen Loyalität und Treue gegen Rußlands Kaiser und Reich, dem sie politisch angehören, doch unentwegt durch die schlimmen Stürme der Gegenwart allezeit das Banner deutscher Sprache, deutschen Glaubens, deutschen Rechts und deutscher Sitte hochhalten. Allerdings fällt ihnen dies zumal in einer Periode des Nationalitätsschwindels einerseits und des zerfressenden Nihilismus und des herrschenden Uniformitätsprincips andererseits wahrhaftig nicht leicht.

Auch Kurland, das „Gottesländchen“, das einst und vor gar nicht langer Zeit durch das herzlich-patriarchalische Verhältniß der deutschen Gutsherren zu der eingeborenen lettischen Bauernbevölkernng, durch die stetige erfreuliche Entwickelung der letzteren in materieller und geistiger Wohlfahrt einen so erfreulichen Anblick gewährte, ist jetzt ein Tummelplatz wild entfesselter Leidenschaften geworden. Gewissenlose Volksverführer lassen es sich, leider oft mit nur zu viel Erfolg, angelegen sein, den ursprünglich guten und braven Sinn des Landvolkes zu vergiften. Und doch kann sich die kurische Bauernschaft, was Wohlstand und Sicherheit der Existenz anbetrifft, getrost neben jede Bauernschaft Deutschlands stellen, und das Aufblühen des Landvolkes in materieller wie in geistiger Hinsicht ist doch beinahe einzig und allein das Werk der von den Demagogen jetzt so angefeindeten Barone und Pastoren, deren kräftige, oft derb realistische Gestalten uns so prächtig von Hippel schon im vorigen Jahrhundert vorgeführt wurden. Besser als dieser hat die Kurländer Niemand ergründet; ja man braucht seinen Kurländern nur das Costüm der herzoglichen Zeiten auszuziehen und man hat den Kurländer, wie er jetzt noch leibt und lebt. „In den Kurländern,“ sagt ein baltischer Schriftsteller, Jul. Eckardt, „hat sich der baltische Typus am originellsten ausgeprägt.“ Die in unübertrefflicher Lebenswahrheit von Hippel geschilderte echt kurische Pastorin, die „von väterlicher Seite fünf, von mütterlicher Seite vier Ahnen aus dem Stamme Levi und darunter zwei Pröpste und einen Superintendenten, welcher über die Seelen zu regieren hat, wie der kurische Herzog über die Leiber“, aufzuzählen vermag; der humane und geistreich-derbe Gutsbesitzer, Herr von Geldern, sein Sohn, der nur für Pferde, Hunde und Jagd schwärmende Junker – das sind echt kurische, markige Gestalten, die dem Leser greifbar vor Augen stehen. Und es ist wohl nicht zufällig und bedeutungslos, daß Lessing seinen Tellheim, das Ideal stolzer Männlichkeit und Ehrenhaftigkeit, aus Kurland stammen läßt.

Des Kurländers Leidenschaft ist die Jagd, und stimmungsvoll hat der Künstler der obigen Bilder aus Kurland ein mächtiges Elenn, das stolze Jagdthier kurischer Wälder, wie es vorsichtig schnuppernd aus der Lichtung zur Tränke schleicht, mit aufgenommen. Und Hippel’s Jagdjunker, der „erst Gewehr, dann Bücher“ haben will, der mit aller Welt „Leib und Seel’, nicht Seel’ und Leib“ sagt (wie der Literatus), der mit seinem, zukünftigen Pastor für die Universität wie für das spätere Leben den Plan entwirft: „du studiren, ich jagen“ – ist auch heutzutage noch keine ausgestorbene Species.

Der Ruf der kurischen Jagdgründe und Universitätsfreundschaft mit kurischen Jagdfreunden hat ja auch den eisernen Kanzler in früheren Zeiten in dies Eldorado der Nimrode gelockt, das bis vor Kurzem noch wohl das letzte europäische Land mit „fliegender Jagd“ war, das heißt mit der Berechtigung des Adels, überall auch auf fremdem Grund zu jagen, sodaß ein solcher Jagdzug oft vom Unterland bei Libau beginnend bis Dünaburg einige hundert Werft durchmaß, einige Wochen dauerte und die kurische Gastfreiheit auf den Gütern stark in Anspruch nahm.

Von den deutschen Gutsbesitzern und Pastoren auf dem Lande hebt sich eine andere Gruppe deutscher Elemente, die der sogenannten Literaten, das heißt der Leute mit akademischer Bildung und gelehrtem Berufe in der Stadt, scharf ab. Stehen sich diese beiden Gruppen auch gesellschaftlich oft nur zu schroff und abweisend gegenüber, in der Liebe zum Lande und in dem Kampf für das Deutschthum stehen sie fest zusammen. Der Literat in Kurland ist eine ganz eigenartige Erscheinung, die in ähnlicher Weise sich kaum in den baltischen Schwesterprovinzen, Liv- und Esthland, noch viel weniger in Deutschland ausgeprägt findet. Schroff und „forsch“ im Auftreten, wohl vertraut mit Hieber und Pistole, birgt er unter oft rauher Hülle ein warmes, heißblütiges Herz,

Die Deutschen, welche als Vertreter der höheren Cultur bisher trotz aller Anfechtungen noch immer den ausschlaggebenden Theil der Bevölkerung bilden, sind numerisch allerdings schwach und werden nicht viel mehr als etwa ein Achtel der Gesammtbevölkerung ausmachen. Das Hauptcontingent der aus vielen Nationalitätssplittern (Russen, Weißrussen, Polen, Lithauern, Juden, Zigeunern, den letzten Resten der aussterbenden Liven und Kreewingen) zusammengesetzten Bevölkerung bilden die Letten, Dies Volk, neben den Lithauern (und den im siebenzehnten Jahrhundert ausgestorbenen Altpreußen) zur lithauischen Familie der indogermanischen Sprachengruppe gehörig und in seinem Idiom zwischen den deutschen und slavischen Sprachen, den letzteren jedoch näher stehend, umfaßt in Kurland, dem lettischen Livland und in der Diaspora kaum anderthalb Millionen. Aehnlich den czechischen, slavischen und magyarischen Consolidationsbestrebungen hat es seit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 527. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_527.jpg&oldid=- (Version vom 13.8.2023)