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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

„Die Feder, dieses lockere, vielverzweigte Feingebilde einer hornartigen Substanz, zeigt sich gegen den so sehr vermehrten Wasserdunst und die stetigen naßkalten Niederschläge unserer Winter sehr empfindlich. Ein feuchtes oder nasses Federkleid schwillt an, sträubt sich und erhöht das Gewicht des Vogels, dessen Wärme entflieht durch die Lücken in seiner durchnäßten und verwirrten Hülle, sowie durch die Verdunstung.“

Kleine Thiere haben relativ die größte Verdunstungsoberfläche und werden daher von den Temperatur-Schwankungen ihrer Umgebung am meisten beeinflußt. Der Vogel mit seiner Federhülle kann daher in unserem Klima nicht gut bestehen, ist leichter dem Verderben anheim gegeben, als die Säugethiere, die zum Theil im Winterschlaf den schädlichen Einflüssen der Winterkälte zu begegnen suchen. Die Mehrzahl der Vögel muß wandern, ihr Zug in die Ferne ist eine Nothwendigkeit, eine Lebensbedingung. Wenn aber die Wärme-Verringerung die Ursache des Zuges bildet, so müssen wir von Süden nach Norden eine Zunahme der Zugvögel nachweisen können. Und in der That stellen die in kalten und gemäßigten Klimaten nistenden Vögel das hauptsächlichste Contingent zum Zuge. Je näher dem Süden, desto mehr vermindert sich die Erscheinung des Zuges bei der dort einheimischen Vogelschaar. Dagegen scheinen in den Aequatorialländern die Wechsel von Dürre und Regenzeit auf die Gewohnheiten der Thiere Wirkungen zu äußern wie in unserem Erdtheile die großen Temperaturwechsel, und durch Alexander von Humboldt wissen wir, daß zur Zeit großer Ueberschwemmungen auf der Südseite der Antillen große Flüge verschiedener Zugvögel aus dem Gebiete des Orinoco und seiner Nebenflüsse eintreffen.

Früher suchte man die Ursache des Zuges hauptsächlich in einem von der Natur dem Vogel tief eingeprägten Wandertriebe, ja man nahm bei der Erklärung zu einem hochentwickelten Ahnungsvermögen von Kälte und Unwirthlichkeit die Zuflucht, ohne dies irgendwie begründen zu können. Alle die räthselhaften Erscheinungen, welche uns hier entgegen treten, wurden durch ein anderes noch dunkleres Räthsel, den geheimnißvollen Instinct, erklärt. Die Neuzeit hat mit dieser willkürlichen Auslegung der Naturereignisse längst gebrochen und auf Grund sorgfältiger Beobachtungen Ansichten aufgestellt, die wir in Nachfolgendem kurz zusammenfassen. Es sind bei dem Zugphänomen zunächst zwei Momente in’s Auge zu fassen, das zeitliche und das räumliche.

Die Zeit des Hauptzuges bei der Mehrzahl der Vögel fällt in die der beiden Tag- und Nachtgleichen. Abzug und Ankunft ist natürlich für die einzelnen Vogelarten höchst verschieden. Für einige der bekanntesten der zahlreichen Pilgernden habe ich die allgemeinen Umrisse der Zugzeiten bereits oben angedeutet. Mit einer genaueren Aufzählung glaube ich den Leser verschonen zu müssen, und ich begnüge mich damit, anzugeben, daß im Allgemeinen ein Vogel, welcher am frühesten seine Brutgeschäfte vollendet und mausert, auch am zeitigsten zur Reise aufbricht. Arten, die jährlich nur einmal brüten, werden selbstverständlich früher zur Abreise schreiten, als solche mit zwei und drei Bruten. Desgleichen macht sich die Regel geltend, daß die zuerst ziehenden Vögel immer zuletzt wiederkehren, und umgekehrt die spät ziehenden am ehesten wieder in ihrer Heimath sind. Gereist wird bald bei Tag, bald bei Nacht.

Hinsichtlich des Zeitpunktes des Abzuges und der Rückkehr läßt sich, wie angedeutet, im Allgemeinen für die einzelnen Arten eine bestimmte Regelmäßigkeit constatiren, die ja vielfach zu Bauernregeln und Jägersprüchen Veranlassung gegeben hat. Ich brauche blos an die bekannten Schnepfensonntage zu erinnern. Doch kommen auch mehr oder minder beträchtliche Schwankungen vor. Läßt doch die alltägliche Auffassung sogar die Ankunft der Vögel an einem gewissen Orte als Zeichen für die Witterungsverhältnisse in denjenigen Ländern erscheinen, wohin sie ziehen, anstatt derjenigen, von wo sie kommen. Auf Grund dieser Annahme hat man den gefiederten Wesen ein Ahnungsvermögen zuerkannt, die sie zu Wetterpropheten besonders geeignet machen sollte.

Von ganz besonderem Interesse ist das räumliche Moment der Zugerscheinung, das Studium der Zugstraßen und der Winterstationen für die beschwingten Südenpilger. Lange war man sich über diesen Punkt im Unklaren und manches ältere Handbuch der Thierkunde bringt irrthümliche Angaben, wie z. B. das Werk von Lenz „Ueber die Vögel“. Ergötzlich sind, nebenbei gesagt, die Auseinandersetzungen der alten Naturforscher über den Charakter der winterlichen Vogelfauna in ihrer Heimath. Der bei dem Vesuvausbruche von 79 n. Chr. verunglückte römische Naturforscher Plinius glaubte, daß der Kukuk jeweils im Herbst sich in einen Sperber verwandelte und im Frühjahre wieder Kukuksgestalt annähme. Bei der oberflächlichen Aehnlichkeit beider Vögel ist dieser Irrthum erklärlich; er sah eben während des Winters keinen Kukuk mehr. Bis in’s Mittelalter cursirten dergleichen Sagen, und selbst bei Conrad Geßner finden wir noch keine klare Vorstellung von dem Verbleiben unserer Zugvögel während der kalten Jahreszeit.

Genauere Kenntniß der Zugstraßen und Winterstationen hat uns eigentlich erst die jüngste Periode der Naturwissenschaft gebracht. Nachdem schon früher ein russischer Reisender, von Middendorff, in Sibirien den Verlauf der Zugwege im Osten zu ergründen bestrebt war, machte 1876 ein schwedischer Forscher, Dr. J. Palmén, in einem eigenen Werke „Die Zugstraßen der Vögel“[1] zum Gegenstande einer speciellen Untersuchung. Durch eine Fülle eigener Beobachtungen, durch emsiges Sammeln von Beobachtungsnotizen bewährter Ornithologen, wie Naumann, Alex. von Homeyer, Alfred Brehm und vieler Anderer, durch das Studium von Museen und Privatsammlungen endlich hat sich Dr. Palmén in den Besitz eines reichen Materials zu setzen verstanden, das ihn zu Resultaten führt, die in der That Jedermanns Interesse verdienen.

Ein Blick auf die beigegebene Karte (S. 608) belehrt uns über den Verlauf der Zugstraßen auf unserm Erdtheil. Palmén unterscheidet deren dreierlei. Auf unserer Karte haben wir, da es sich nur darum handelt, dem Leser einen Einblick in das Wesen der Zugstraßen zu ermöglichen, nur zwei Arten derselben angedeutet, und zwar die marin und submarin-litoralen, d. h. die durch das Meer und die Meeresküsten bestimmten (durchbrochene Linien), und diejenigen, welche dem Laufe der Flüsse und Küsten entsprechen (fein punktirte Linien), die sogenannten fluvio-litoralen, während wir die für uns weniger wichtigen, durch Eisfelder des Polarmeeres bedingten glacial-litoralen Straßen weglassen.

An der Hand der Beobachtungsnotizen über 19 Vogelspecies zeigt uns nun der Verfasser, welche Wege jeweils eine der fraglichen Arten auf dem Herbst- und Frühjahrszug einschlägt. Uns interessiren zunächst die Linien, welche für Deutschland in Betracht kommen.

Da sehen wir denn, daß eine große Heerstraße aus hohem Norden über Nowaja Semlja durch die Halbinsel Kanin zum weißen Meer sich hinzieht und über die großen Seen im nordwestlichen Rußland zum finnischen Meerbusen verläuft. Mehrfach sich theilend und wieder vereinigend, streicht sie in zwei Aesten längs der südschwedischen und deutschen Gestade der Ostsee hin, durchschneidet die dänische Halbinsel, um sich an der niederländischen Küste auf’s Neue in zwei Aeste zu spalten. Während der eine davon den atlantischen Küsten Frankreichs und der iberischen Halbinsel folgt (verstärkt durch Zuzügler aus England), um nach Afrika hinüberzuführen, setzt der andere mitten durch den Continent hindurch.

Da nun die Zugvögel mit Vorliebe den Verlauf von Flußthälern als Wanderstraßen benutzen, so lange dieselben nicht allzu sehr von der allgemeinen Zugrichtung abweichen, so kann es nicht wundern, wenn die Hauptzugstraße Mitteleuropas durch den Unterlauf des Rheins, die Mosel und die Saone gegeben wird.

Ein ebenfalls sehr stark besuchter Weg begleitet den Rheinstrom beträchtlich weiter nach Süden, führt über die westschweizerischen Seen durch das Thor von Genf, um, der Rhone nach verlaufend, in spitzem Winkel mit der vorbeschriebenen Straße zusammenzutreffen und dem Golf von Lion zuzustreben.

Was nun den Weg über das Mittelmeer anbetrifft, so macht die Karte ersichtlich, daß dreierlei Fälle möglich sind. Ein Theil der Zugvögel begleitet[WS 1] westwärts noch eine Strecke weit die Mittelmeerküste Frankreichs und Spaniens, setzt dann etwa auf der Höhe des Cap de la Nao nach Algier über. Andere Arten ziehen ostwärts, um längs Corsica und Sardinien nach Tunis zu gelangen oder durch die Meerenge von Messina die große Syrte zu erreichen.

Der Verlauf der mitteleuropäischen Zugstraße ist nicht genau der von Nord nach Süd, sondern zeigt eine westliche Ablenkung. Diese Ablenkung wird durch die Alpenkette verursacht, welche durch ihre quere Lage und ihre Höhe zu einem Hinderniß wird, das manche der befiederten Pilger zu umgehen suchen. Indessen giebt es genug andere, die sich durch das Alpengebirg keineswegs in ihrer Reiseroute beirren lassen.

Manche Wandervögel nun kommen durch den Vierwaldstättersee


  1. Erschienen bei W. Engelmann in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: hegleitet
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 607. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_607.jpg&oldid=- (Version vom 13.1.2024)