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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Ein armes Mädchen.

Von W. Heimburg.


Leise wurden beide Fenster geöffnet, und nun zog schmeichelnd feuchtwarme Frühlingsluft in das Gemach und spielte um ein blutjunges Frauenantlitz, das seltsam blaß und still in den weißen Kissen des Lagers ruhte; der Luftzug hob wie gespenstisch die volle blonde Haarlocke auf der bleichen Stirn und bewegte die Vorhänge einer blau verhangenen Wiege, die man, als sei sie überall im Wege, in den hintersten Winkel des Zimmers geschoben hatte.

„Stehen Sie auf, Hegebach,“ sagte eine tiefe Frauenstimme, „Gott kann geben und nehmen, und wir müssen es geduldig tragen.“

Es war eine hohe volle Frauengestalt in den vierziger Jahren, die mit diesen Worten zu dem Manne trat, der bewegungslos vor dem Bette lag und seine Arme wie in wildem Schmerz über die Todte geworfen hatte. Er rührte sich auch jetzt nicht, und die Sprecherin wischte sich hastig ein paar Thränen aus den hellen klugen Augen.

„Hegebach, es geht nicht, Sie dürfen nicht den ganzen Tag hier liegen ohne Speise und Trank! Kommen Sie,“ fuhr sie fort, aus dem ermahnenden Tone in ein halb ersticktes Schluchzen übergehend, „kommen Sie, Hegebach, Sie haben noch Pflichten, denken Sie an das Kind!“

Er stöhnte dumpf auf und erhob sich. Er war kein junger Mann mehr, und der Schmerz ließ das bärtige Gesicht mit dem unverkennbar militärischen Haarschnitt noch viel älter erscheinen; fast unheimlich starr blickten die Augen auf das friedliche süße Antlitz, das dort so ruhig schlummerte. Dann sich jäh umwendend, verließ er sporenklirrend das Zimmer, nicht mehr ein Trauernder, sondern wie ein zürnender, ein schwer Beleidigter. – Die zurückbleibende zog still die Falten des weißen Tuches zurecht über der Todten und strich wie liebkosend über das kindliche Gesichtchen, dann holte sie die Wiege aus dem Winkel und trug sie hinaus.

Im gegenüber liegenden Zimmer schrie Etwas; sie öffnete hastig die Thür und trat in ein kleines einfensteriges Gemach, offenbar das der Verstorbenen; unendlich zierlich, wenngleich fast zu einfach für eine Dame von Stand, mit feinen weißen Vorhängen und dem Nähtisch am Fenster, durch welches man im Garten draußen die jungen zartgrünen Zweige der Linde im Frühlingswehen schwanken sah. Niemand hier innen, nur auf dem Sopha ein weißes Bündelchen, daraus ein paar winzige rothe Händchen sich reckten und ein schier hülfloses Weinen erklang.

Die große stattliche Frau lag plötzlich auf den Knieen vor dem Sopha und barg, aufweinend, ihr Gesicht in den kleinen Kissen. „Ja, ja,“ flüsterte sie, „Dir lacht’s nicht in der Welt, Du armes Ding! Keine Mutter, keine Mutter! Und Dein Vater thut, als hätte ihn Gott schwer beleidigt, daß er Dich eine arme Deern werden ließ. Warum bist Du dummes kleines Gör nicht ein Junge? Und Alles fort, natürlich! Sie lassen Dich hier schreien, und hungrig bist Du auch.“

Sie schwieg und sah einen Moment wie überlegend auf das kleine rothe Gesichtchen, das sich, kaum beruhigt, eben wieder zum Weinen verzog. „Wart nur, wart,“ sagte sie, rasch das Kind emporhebend, „ich nehme Dich mit auf die Burg; was soll er auch mit so einem Wickelkind!“

Zwei Tage später ward die junge Frau Rittmeisterin von Hegebach begraben. Ihr kurzer Lebenslauf war das Tagesgespräch im ganzen Städtchen, und wer ihn noch nicht kannte, der erfuhr gar bald, daß sie ein blutarmes Fräulein gewesen und den viel älteren, ebenfalls unbemittelten Mann nur genommen, um versorgt zu sein. Von ihm hatte Niemand mehr geglaubt, daß er noch freien würde, war er ja doch schon ein alter Knabe, und mürrisch und verdrießlich dazu. Nun war es just ein Jahr, daß er sich diesen Sonnenstrahl in sein Haus geholt – welch ein kurzes Glück!

„Wenn es überhaupt eins gewesen,“ sagten auch Manche. Der Rittmeister von Selchow versicherte indessen einigen jüngeren Cameraden auf dem Wege zum Trauerhause, er wisse aus authentischer Quelle, Hegebach’s Verheirathung sei ein coup de désespoir gewesen. Er, Hegebach, habe nämlich vor ohngefähr fünfviertel Jahren von seinem alten Erbonkel, dem Bennewitzer, einen Brief bekommen, der ihm kurz und bündig erklärte, der Onkel verspüre keine Lust, sein Vermögen einem Paar alter Junggesellen, wie seine beiden Neffen ja leider seien, zu vermachen, er wolle wissen, für Wen er gespart und gesorgt haoe. Wer von den beiden Herren ihm zuerst die Geburt eines legitimen Sohnes melde, sei der Bevorzugte. Töchter würden nicht in Frage kommen. – Hegebach’s Vetter, der von den fünften Dragonern, habe nicht geantwortet auf dies Schreiben, man munkelte von einem Verhältniß, das er nicht sogleich lösen könne. „Unser Rittmeister antwortete aber acht Tage später sehr präcise mit einer Verlobungskarte. Voilà tout! Das Weitere wissen die Herren; wir wohnen heute dem traurigen Schlusse dieser Angelegenheit bei. – War ein reizendes Weib, die kleine Hegebach; – jammervoll!“ schloß er pathetisch.

Frau von Ratenow aus der Burg hatte die junge Mutter gepflegt und auch die Honneurs im Trauerhause gemacht; es war eine entfernte Verwandtschaft zwischen ihnen. Eltern hatte die Verstorbene nicht mehr gehabt, aber der Vormund war heute früh zur Beerdigung gekommen, die Cameraden waren erschienen und die Spitzen der Behörden, und die Regimentscapelle schritt vor dem blumengeschmückten Sarge durch die winkeligen Gassen und spielte „Jesus meine Zuversicht“. Im vollsten Waffenschmuck folgte der Wittwer dem Leichenwagen; es lag auf seinem starren Gesicht nichts von Trauer, wohl aber ein Ausdruck von Weltverachtung; es war, als schürzten sich die Lippen unter dem bereits grau melirten Vollbart zu fast hohnvollem Lächeln.

Dann war auch das vorbei. Die Leute waren gegangen; auf dem Kirchhofe wölbte sich ein frischer Hügel mehr und die Straße vor dem Trauerhause lag wieder einsam; nur ein einziger Wagen hielt noch vor der Thür mit ein paar prächtigen Rappen, reicher Leute Fuhrwerk.

Im Zimmer der Verstorbenen schaukelte leise die kleine Korbwiege mit dem schlummernden Kinde; ein altes Dienstmädchen, die Hände im Schooß, saß mit rothgeweinten Augen daneben. Sie hatte vorhin die einfachen Möbel mit Tüchern verhängt; die zierlichen Deckchen, die Blumen am Fenster waren verschwunden, die Vorhänge und Teppiche verwahrt; nun sah es aus, als hätte die Bewohnerin eine weite, weite Reise angetreten, unwohnlich und verlassen.

Frau von Ratenow war in das finstere ungemüthliche Wohnzimmer des Rittmeisters getreten; sie trug schon Hut und Tuch. „Adieu, Hegebach!“ sagte sie, „ich muß nun heim, eben haben sie nach mir geschickt, der Moritz ist gekommen; und drüber und drunter ist’s gegangen zu Hause in den letzten acht Tagen. Daß das kleine Gör es gut haben wird, brauche ich wohl nicht zu versichern!“

Er hatte am Fenster gestanden und hinausgeschaut auf die enge Gasse, jetzt fuhr er herum und sah wie erstaunt zu der resoluten, noch immer schönen Frau hinüber.

„Nun ja,“ fuhr sie fort, „da ist’s nun einmal, Hegebach, und braucht Wartung und Pflege; in Ihrer verräucherten Butike hier kann doch kein Wiegenkindchen gedeihen. Ich thue es seiner Mutter zu Liebe, denn kleine Kinder bin ich just auch nicht mehr gewöhnt; der Moritz ist Zwanzig gewesen.“

„Ich danke Ihnen, gnädige Frau,“ murmelte er; „in der That – ich wüßte nicht –“

„O, keine Ursache, lieber Hegebach; wollte Ihnen nur sagen, ich bitte mir’s aus, daß Sie dem Würmchen nicht gram sind, weil Sie die Sandbüchse, das Bennewitz, nicht bekommen. Der Mensch denkt, Gott lenkt; wer weiß, wozu es gut ist!“

„Mein Vetter heirathet nächsten Monat, gnädige Frau.“

„Nun, so lassen Sie ihn doch heirathen,“ war die Antwort. „Bekommt er den erwünschten Sohn, ist das Nest und die Erbschaft sein, das wissen wir Alle längst.“

„Und das Kind!“ rief er, in das erste wilde Schmerzenswort ausbrechend und die Uniform heftig aufreißend. „Wär’ ich es nicht, die Lisa lebte noch; wär’ ich es nicht, so hätte ein Sohn in der Wiege geschrieen! Wer hieß mich auch, die Hand nach einem Glücke ausstrecken!“

„Hegebach!“ sagte Frau von Ratenow vorwurfsvoll.

„Ein armes Mädchen,“ murmelte er mit unendlicher Bitterkeit; „was das heißt in unserem Stande, heutzutage – Sie wissen es so gut wie ich.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_002.jpg&oldid=- (Version vom 24.4.2020)