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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


„So, Tanting, da hast Du was, auf das die Mieze eifersüchtig sein kann.“

„Grundgütiger Himmel!“ schrie sie auf, und ihre Augen irrten von dem Kinde durch das blitzende Zimmerchen und blieben an dem blassen ernsten Antlitz der Frau von Ratenow hängen.

„Du hast am besten Zeit, Lott, nimm Dich des Kindes an; seine Wärterin, die alte Siethmann, habe ich mitgebracht, viel Last sollst Du nicht haben. Bei ihm konnte es nicht bleiben, denn Cigarren raucht’s noch nicht, und ich, Du weißt’s, kann mich nicht darum bekümmern bei der großen Wirtschaft.“

Die zarten Hände der alten Jungfer hatten sich schon während des Sprechens um das Bündelchen gelegt. Sie sagte nichts, sie vermochte es nicht, aber sie nickte mit ihrem zum Weinen verzogenen Gesicht so zustimmend und energisch, und wischte sich so inbrünstig die Augen, daß dies als vollständig genügende Antwort angesehen werden konnte. Und so rückte denn Moritz auf Vorschlag der Mutter den Schrank zur Seite, der eine Thür verdeckte, und als diese geöffnet war, zeigte sich ein freundliches blau tapeziertes Stübchen, das, sonst für Logirbesuch bestimmt, nun zur Kinderstube avancirte. Die Wiege trug Moritz hinauf, und als es dunkel geworden, saß Tante Lott mit dem Strickstrumpf und neben ihr der junge Herr von Ratenow beim Schein des Nachtlichtes an dem leise schaukelnden Bettchen, sie auf dem Stuhle und er auf der Fußbank, und sie erzählten sich flüsternd von der Verstorbenen, so eifrig, daß sie es gar nicht gewahrten, wie der Kopf der Frau von Ratenow zur Thür hereinlugte und das seltsame Paar dort betrachtete. Die graue Mieze war vorn auf die Wiege gesprungen und leckte sich die Pfötchen.

„Ein sonderbarer Jung’,“ murmelte die Mutter, die Treppe hinunterschreitend, „ein Mann mit einem Kinderherzen – ganz der Vater, natürlich – von mir hat er es nicht.“ Und sie nahm das Schlüsselbund so energisch aus dem Gürtel, daß das Klirren die Mädchen in der Küche, die sich eifrig von dem kleinen Zuwachs im Hause erzählten, eilig an die Arbeit jagte, denn die Gnädige verstand keinen Spaß.

(Fortsetzung folgt.)

Die Scrophulose, eine sociale Krankheit.

Die Kinderpoliklinik, deren ärztliche Leitung mir obliegt, war, wie gewöhnlich, von armen Frauen, welche die kleinen Patienten in Kinderwagen oder auf dem Arme oft stundenweit vom Lande herein brachten, fast überfüllt. Dreißig bis vierzig Mütter wollten in dieser einen öffentlichen Berathungsstunde wieder einmal Rath und Hülfe für ihre kranken Kinder einholen. Obgleich dreimal wöchentlich die Pforten unserer Anstalt sich zu gleichem Zwecke öffnen, vermögen doch wir Aerzte und die jüngern Mediciner, welche zum Studium der Kinderkrankheiten hier erscheinen, kaum die Krankenzahl zu bewältigen. Auch heute war der Zuspruch, trotzdem Schnee, Regen und ein scharfer Wind draußen um die Herrschaft stritten, ganz bedeutend. Und welche Gestalten zuweilen! Neben der sauber gekleideten verschämten Armuth, neben solchen, welche sicher bis vor Kurzem bessere Tage gesehen, welche traurige Gestalten, die, zuweilen mit zwei Kindern, ein kleineres in ein dürftiges Tuch geschlagen, ein größeres an der Hand, um ärztliche Hülfe baten.

Ein auswärtiger College, welcher bei uns als Gast verweilte, verfolgte den Verlauf der Ordinationsstunde mit einer Theilnahme, die wohl ebenso sehr aus Mitleid für die Besucher, wie aus Interesse für die sich darbietenden Krankheitsformen bestehen mochte. Insbesondere fiel es ihm auf, daß ein großer Theil der Leiden, so verschieden sie sich äußerten, von mir in den kurzen Auseinandersetzungen, die ich für die Studirenden an die Vorzeigung des Falles knüpfte, auf ein Grundübel, die ungenügende und unpassende Ernährung zurückgeführt und demgemäß vorwiegend mit hygienisch- diätetischen Vorschriften, in zweiter Linie erst mit Arzeneien behandelt wurde.

Daß solche Belehrungen den Müttern gedruckt mitgegeben wurden, daß wir, so weit dies möglich war, auch Nähr- und Stärkungsmittel verabreichten, schien unserem Gaste ebenfalls neu. Er interpellirte mich – angeregt durch dieses vielgestaltige Uebel – über mein Betonen der Scrophulose hinsichtlich ihrer Verbreitung, Tragweite und Bekämpfung. „Glauben Sie,“ so schloß er seine Anfrage, „daß die Scrophulose für den Einzelnen wirklich so wichtig ist, daß sie so sehr von socialer Noth abhängt und so energisch behandelt werden muß?“

Die Frage verlangte eine sofortige und ebenso offene Antwort. „Ich glaube es, bin seit Jahren fest davon überzeugt und bitte Sie, dies Leiden, wie es sich uns in jeder Stunde unter mannigfacher Gestalt darbietet, mit mir aufmerksam zu verfolgen. Sie werden sich überzeugen, daß wir diese Krankheit weder für den Einzelnen, noch für die Gesammtheit unterschätzen dürfen. Es ist, wie ich betonen möchte, eine sociale Krankheit.“

Wenn ein Staatsmann sich gern über eine Frage gegenüber der Volksvertretung äußern möchte, so läßt er sich am liebsten aus den Reihen der „gesinnungsvollen Opposition“ darüber „interpelliren“ oder von einem Berichterstatter „interviewen“. Wir Aerzte kommen täglich in die Lage, unerwartet interpellirt zu werden; auch in diesem Falle war die Interpellation nicht vorher abgekartet, mir aber nicht weniger willkommen. Die Veranlassung, über etwas, das man auf dem Herzen oder auf der Zunge hat, sich aussprechen zu können, ist nicht unangenehm. Das lange im Innern in immer klarer werdenden Vorstellungen und immer mehr gefestigter Ueberzeugung Erwogene nimmt Ausdruck und Form an.

Eine Frau mit einem Säugling trat in diesem Augenblicke in das Zimmer und präsentirte das Kind wegen eines leichten Katarrhs. Auf dem Kopfe, zwischen den Haaren, zeigten sich gelegentlich der Untersuchung zahlreiche, trockene Schuppen von Hauttalg. „Das habe ich schon gesehen,“ bemerkte uns die Frau, „aber eine Bekannte sagte mir, das dürfe man nicht ablösen, es komme vom Zahnen und vergehe von selbst wieder.“ Die Mutter beachtet die „Kleinigkeit“ gar nicht, oder läßt der Sache ihren Verlauf.

Wir jedoch gewahren ein fast unbeachtetes, unscheinbares Leiden, das von sehr verhängnißvollen Folgen sein kann. Diese Hauttalgkrustchen erregen einen Entzündungsreiz auf der Kopfhaut; unter ihnen sammelt sich Flüssigkeit an, die schließlich zu einem chronischen nässenden Kopfausschlage führt, einem der häufigsten Ausgangspunkte der Scrophulose. Denn überall, wo größere Hautflächen nässende Absonderungen zeigen, bilden sich im Gebiete dieses Hautbezirks, durch Aufsaugung der krankhaften Stoffe, Lymphgefäß- und Lymphdrüsenanschwellungen, in diesem Falle also unter der Kopfhaut und am Halse.

Gleich das nächste Kind zeigt am Kopfe und zum Theil auch im Gesicht in größerer Ausdehnung solche mit reichlicher Flüssigkeitsabsonderung verbundene Ausschläge und natürlich wieder jene stark geschwollenen Nacken-Lymphdrüsen. Auf die Frage: „Wie lange besteht dies?“ erhalten wir von der Mutter, einer handfesten Bäuerin, den Bescheid: „Seit mehreren Wochen.“ Und auf die Frage: „Warum haben Sie nicht früher dazu gethan?“ wird uns die Auskunft zu Theil: „Bei uns heißt es, daß das gerade gesund ist. Da kommt alles Schlechte aus dem Körper heraus, und wir wollten es nicht durch eine Cur wieder hineintreiben.“

Und mit solchen unsinnigen Anschauungen muß man täglich kämpfen, ohne Aussicht, sie gründlich besiegen zu können. Wenn es auch in einem Falle gelingt, den Drachenkopf des Aberglaubens, des althergebrachten, gedankenlosen Vorurtheils, mit dem scharfen Schwerte der Ueberzeugung abzuschlagen – an hundert anderen Stellen wächst genau so schnell und gewaltig ein neuer. Diese Hydra ist eben unausrottbar.

In unserem Falle ist die Unkenntniß von der Tragweite dieser schon wochenlang bestehenden Drüsenanschwellungen nach einem derartigen Kopfausschlage für das Kind sehr ernst. Schon ziehen sich Drüsenknoten, äußerlich fühlbar, bis an das Schlüsselbein, innen jedoch – unserem Finger nicht mehr zugänglich – bis in den Brustraum hinab. Schon sind einzelne Drüsen in einer höchst gefährlichen Umwandelung, die man „Verkäsung“ nennt und die ein Uebergang zur Tuberculose ist, begriffen. Andere sind zu eitrigen Abscessen geworden, die im günstigsten Falle bleibende, entstellende Narben hinterlassen. Die Gefahr einer

Selbstansteckung des Körpers, von diesen erkrankten Drüsen aus,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_006.jpg&oldid=- (Version vom 4.9.2023)