Seite:Die Gartenlaube (1884) 106.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

„Hole die Geige aus dem Salon!“ befahl Moritz. Dann nahm er eine Visitenkarte aus seinem Notizbuche, schrieb ein paar Worte mit Bleistift, couvertirte und gab das Briefchen dem zurückkehrenden Diener. „Unsere Empfehlung an Herrn Lieutenant Bernardi.“

Die zwei braunen Mädchenaugen sahen wie erstarrt dem kleinen Violinkasten nach, der da eben hinter der Portière verschwand. Es war so still im Zimmer geworden, man hörte nur das Klirren der Messer und Gabeln, die Frau von Ratenow auf den Teller legte und wieder hinwegnahm. „Es fliegt ein Engel durch das Gemach,“ heißt es; diesmal war es ein Todesengel, der eine kaum erschlossene schöne Blume knickte, die eben so glückselig in einem jungen Menschenherzen zu sprießen begann.

Moritz wollte endlich etwas sagen; er bezwang sich, in das junge tieferblaßte Gesicht dort drüben zu blicken.

„Nun, Else, wollen wir zur Stadt gehen? Wollen wir den Kindern Schulbücher besorgen?“ Er schob ihr plötzlich die Hand hin über den Tisch in einer unwillkürlichen Bewegung.

„Na, dann hätten wir lange genug gesessen, Kinder; gesegnete Mahlzeit!“ Frau von Ratenow erhob sich und Else ging hinaus; sie wollte ihre Sachen holen, sagte sie mit tonloser Stimme.

„Um Gotteswillen, das arme Kind!“ weinte Tante Lott. „Sie liebt ihn, sie lieben sich Beide.“

„Der Bernardi ist ein anständiger Mann,“ erklärte Frau von Ratenow. „Ich sage Dir, weine nicht, Lott,“ fuhr sie fort, „ich habe lange gewußt, daß es so kommt, aber eine alte Frau, wie ich, hat ja überlebte Ansichten – nun ist’s so weit.“

„Guten Morgen!“ rief Frieda, „ich mache Toilette. – Schade, daß Bernardi fortgeht, unsere schönen Musikabende!“ Sie verschwand im Nebenzimmer. Moritz hörte, wie sie dort sang und kosend mit ihrem Söhnchen sprach.

„Moritz,“ sagte Frau von Ratenow, „beim Goldschmied Thomas im Schaufenster liegt ein kleines Emailarmband; Else hat sich vor ein paar Tagen so sehr darüber gefreut; kaufe es, verlege das Geld einmal, ich geb’s Dir wieder nachher. Na, guten Morgen.“

„Bitte, geh hinauf, Tante Lott, sieh nach dem Mädchen,“ bat Moritz in förmlich nervöser Hast.

„Ist denn Alles vorbei nun?“ fragte die kleine weinende Dame, „Alles?“

„Aber, bestes Tantchen, es ist doch nun nicht anders!“

Sie wandte sich ab und trocknete die Augen; dann stieg sie langsam die Treppen hinan.

Else saß am Fenster und schaute in den Garten; der Schnee war von den Bäumen abgethaut und schwarz und feucht bogen sich die Aeste im Winde. Der Himmel hatte sich grau bezogen, ein feiner Regen stiebte hernieder und nahm die Aussicht in das Land hinein. Tante Lott machte sich am Kachelofen zu schaffen, das Mädchen durfte ja nicht sehen, daß sie weinte, und sie nahm das Staubtuch und fuhr über die glänzende Politur der Möbel, auf denen doch kein Stäubchen lag; sie wollte etwas sagen, und sie wußte nicht was.

Die Thür zu dem Schlafzimmer des jungen Mädchens war geöffnet; die alte Dame ging in ihrer Verlegenheit auch dort hinein. Da stand das zierliche weißverhängte Bett, und das kleine Crucifix aus Perlmutter hing am Kopfende des Lagers; das hatte sie aus der Herrnhuter Gemeinde mitgebracht; im Winkel am Ofen das Puppenschränkchen mit all dem süßen Tand aus der Kinderzeit, und auf dem Tischchen unter dem Spiegel, sorglich in frisches Wasser gestellt, der halbverwelkte Veilchenstrauß von gestern. Die Uhr tickte im Nebenzimmer, sonst war’s unheimlich still.

Dann ein Thürengehen dort innen und Moritz’ Stimme, so weich, als spräche er mit einem Kinde: „Else! Else! Wie siehst Du aus! Was fehlt Dir denn?“

„Mir? Gar nichts, Moritz.“

„Du bist unsere gute vernünftige Deern, Else.“

Sie fuhr vom Stuhl empor. „Sage nichts! Sei ruhig, Onkel Moritz!“ rief sie und ging an Tante Lott vorüber, die, eben wieder hereingetreten, beide Hände nach ihr ausstreckte, und schloß die Thür ihres Zimmers hinter sich zu.

Er wandte sich zum Fenster. „Wie mich das dauert, Tante Lott! – Dort unten geht sie,“ bemerkte er nach einer Weile, „sie ist im Hut und Mantel; ich hätte sie nicht so allein fort lassen sollen. Wo will sie hin, Tante Lott, sie biegt links ab durch den Garten?“

„Da geht sie immer nach dem Kirchhof, Moritz; es ist näher, weißt Du; sie nimmt den kleinen Weg an der Gertrauden-Capelle vorüber.“

Sie ging in der That dorthin. Einen klaren Willen hatte sie augenblicklich kaum. Der Schnee war schon sehr weich und das Wandern mühsam; sie war so müde mit einem Male, so furchtbar müde. Nicht weit von dem Eingange des Friedhofes sah sie Annie Cramm daherkommen. Die junge Dame trug die Schlittschuhe über den Arm und schien es sehr eilig zu haben; nun kam sie über den Fahrdamm in ihrem eleganten braunen Eiscostüm.

„Guten Morgen, Else; wie ist’s bekommen?“ Es war ein forschender Blick, der unter dem Schleier hervor auf das blasse Mädchengesicht fiel.

„Ich danke, Annie, gut,“ erwiderte sie.

„Willst Du auf den Kirchhof? Herr Gott, welch elegische Gedanken in aller Morgenfrühe nach solch lustigem Fest!“

Else nickte nur.

„Ich komme noch bis zur Pforte mit, Else, wenn Du erlaubst. Du weißt doch, daß Du eine ganz berühmte Persönlichkeit geworden bist über Nacht,“ plauderte sie im Gehen. „Der Papa kam vorhin aus der Weinstube, und denke nur, er erzählte als größte Neuigkeit – ich hätte mich halb todt lachen können – Bernardi habe Deinetwegen mit Lieutenant P. getauscht, weil er sich einen Korb geholt bei Deiner Tante oder bei Dir, was weiß ich’s! Ich sagte gleich: so ein Unsinn – Bernardi! Nun, Du weißt ja auch, Else, und nimmst mir das nicht übel, er kann doch einmal kein armes Mädchen heirathen.“

So trostlos und weh sahen die zwei braunen Mädchenaugen in diesem Moment die Sprecherin an, daß diese erschreckt stillschwieg und ihre Schlittschuhe von der linken Hand in die rechte nahm.

„Na adieu, Else,“ sagte sie endlich. „Ich komme vielleicht Nachmittags zu Euch herunter. Grüße Frau von Ratenow!“

Nun stand sie an dem Grabe und starrte es an; es war so kalt und stumm, es war eben nur ein Grab, todt, was drunter lag. Kein Mensch auf dem Kirchhofe, nur ein kleines vorwitziges Rothkehlchen saß da und schaute sie an mit den runden neugierigen Aeuglein. So furchtbar schwer hatte sie die Bedeutung dieses Grabes nie empfunden wie in dieser Stunde, es wollte das andächtige Gefühl nicht kommen, das sie sonst immer ergriff, wenn sie hier weilte. „Warum lebe ich überhaupt, warum haben sie mich damals nicht gleich mit hier hineingelegt!“ so schrie es auf in ihrer Seele.

„Sie werden sich hier erkälten, Fraulein,“ sagte der alte Todtengräber, der, die Hände in den Taschen, auf großen Holzpantoffeln langsam daher kam. „Zu sehen ist ja doch nichts jetzt, Fräulein; aber im Frühjahr wird’s hübsch hier, da kommen die blauen Krokus hoch, die Sie gepflanzt haben.“

Sie ging wieder und bog in die Stadt ein; da war ja noch der alte mürrische Papa, und er war krank; sie hatte es ganz vergessen über die letzten Stunden, diese schweren Stunden. Auf der Straße kam ihr Lieutenant Rost entgegen; als er sie erblickte, stutzte er, sie sah so blaß aus und sie dankte so abwesend. Einen Moment blieb er stehen und schaute der schlanken Mädchengestalt nach, dann ging er, leise pfeifend, weiter; er pfiff immer, wenn ihn etwas peinlich berührte.

„Gut, daß Du kommst, Elschen! Ach, der Papa, der Papa!“ flüsterte die Siethmann dem jungen Mädchen auf dem Flur zu. „Es ist kein Fertigwerden mit ihm seit gestern, wo der Bote den großen Schreibebrief brachte; und vorhin hat sich gar noch der Bennewitzer Herr anmelden lassen, und nun ist er ganz wüthig.“

Else trat ein in das Zimmer zu dem alten Mann. Er saß im Lehnstuhl am Fenster, die Pfeife lag auf dem Tische und seine Hände hielten einen zerknitterten Brief.

„Da kommst Du endlich einmal, Else; ich kann verderben und sterben hier; und Deinetwegen habe ich doch nur den Aerger mit dieser verfl ..... Geschichte.“

Sie hatte kein Wort der Erwiderung auf den ungerechten Vorwurf. „Ich bleibe bei Dir, Papa, wenn es Dir lieb ist,“ sagte sie nach einer Pause.

„Nein! Das will ich gar nicht; Du weißt, daß das nicht geht. Aber sprechen muß ich mit Dir, Du mußt es doch wissen,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_106.jpg&oldid=- (Version vom 1.6.2021)