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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

der Lippe; und aus dem Rollen und Sausen der Räder klang es wie Schlittenglocken, und wie Veilchenduft wehte es um sie herum. Und doch hatte er sich von ihr gewandt, hatte sie verlassen – weil sie ein armes Mädchen!

Sie fuhr plötzlich empor.

„Liebes Kind, sind Sie krank?“ fragte eine theilnehmende Stimme, und ein altes Frauenantlitz neigte sich über sie.

„Nein! Nein!“ wehrte sie hastig ab, dunkel erglühend. „Ich schlief nur nicht in der Nacht, und –“

„Verzeihen Sie mir, Sie stöhnten so angstvoll, liebes Fräulein.“ Die Dame setzte sich wieder auf ihren Platz. Nun griff sie nach einer Schachtel, ein ganzes Heer kleiner Veilchensträuße lag darin. „Meine Enkelkinder haben sie mir gepflückt, darf ich Ihnen eins anbieten?“ Und sie hielt dem Mädchen die süßen blauen Blumen entgegen.

Die kleine Hand faßte danach, aber es kam kein Dank. Die Geberin sah nur, wie sie den schwarzen Schleier wieder hastig vor das Gesicht zog, und darunter die Blumen an die Augen preßte; und nach einer Weile meinte sie Schluchzen zu hören, aber so ein sonderbares, wie wenn man weint mit trockenem Auge. „Auch schon Leid, und noch so jung,“ flüsterte sie und blickte zum Fenster hinaus.

Auf den Bahnhöfen war überall reges Leben; zuweilen füllte sich das Coupé aüf eine kurze Strecke, dann ward es wieder leer. Und nun verließ auch die alte Dame den Zug. Sie blieb auf dem Perron stehen und schaute auf den langsam weiter rollenden Train hin; sie hätte gern noch einmal das traurige Kinderantlitz gesehen; vergebens; sie saß wohl noch immer so regungslos in den Polstern, wie bisher.

Und nun kam die vorletzte Station, und endlich, endlich das Ziel. Else stand plötzlich auf dem Perron des wohlbekannten Bahnhofes, es war ihr, als träume sie. Blau erhoben sich die Bergkuppen des Thüringer Waldes dort drüben, wie sie es so hundertmal gesehen. Ach, der schöne Wald dort oben, der große, weite einsame Wald; wie selig hatte sie ihn durchwandert! Und hier lag sie vor ihr, die menschenleere saubere Straße mit den netten alten Häusern, wo hinter jedem Fenster Blumen in Fülle blühten; dort unten das schmucklose Kirchlein und daneben der schattige grüne Friedhof. Alles noch unverändert; nur sie – nur sie –!

Hastig schritt sie vorwärts, die Straße hinab, an dem langen Zaun vorüber und durch den Anstaltsgarten. Kein Mensch zu sehen – Gott sei Dank! Noch waren sie Alle bei der Arbeit und in den Schulstuben. Die schmäle blendend weiße Treppe im Nebenhause knarrte leise, als das Mädchen darüber ging; wie das vertraut an ihr Ohr schlug! Sie kannte es so gut, dies Knarren, und horch! Da schmetterte hellauf der Kanarienvogel, der kleine gelbe Hans, in Schwester Beatens Stüblein.

Sie pochte und sie trat dann langsam über die Schwelle des kleinen Gemaches, in der schwarzen Trauerkleidung und dem düsteren Schleier um das blasse Antlitz.

„Elisabeth?“ fragte eine tiefe ruhige Stimme, „bist Du es wirklich, Elisabeth?“

Und eine kleine alte Frau in der Tracht der Herrnhuterinnen trat vor sie, und ein paar unendlich milde Augen schauten in ihr vergrämtes Gesicht.

„Schwester Beate,“ wollte sie sagen, aber sie vermochte es nicht, sie schlang nur beide Arme um den Nacken der alten Frau, und die ganze Qual der letzten Zeit löste sich in ein fast krampfhaftes Weinen auf.

„Du bist in Trauer, armes Kind?“

„Mein Papa –“ stammelte sie.

Die kleine Herrnhuterin drückte ihr sanft die Hand und führte sie zu dem altmodischen Sopha. „Beruhige Dich erst, Elisabeth; wir sprechen nachher. Komm, nimm eine Tasse Kaffee. Daß Du kämst, wußte ich – es ist eine Depesche da.“

„Von wem?“ Das Mädchen sah entsetzt die Sprecherin an. „Was will man? Was steht in dem Telegramm?“ setzte sie hastig hinzu.

„Ich soll Dich verhindern, einen Brief zu schreiben, Kind; und dann – Deine Tante kommt heute Abend hier an.“

Else saß stumm und zitternd. „Sie lassen mich nicht!“ schluchzte sie endlich auf. „Schwester Beate, helfen Sie mir, daß ich nicht schlecht werde, so schlecht wie ein Mädchen nur werden kann – helfen Sie mir, daß ich nicht zu Grunde gehe!“

„Elisabeth, Du bist außer Dir,“ klang ermahnend die ruhige Stimme der Schwester.

Else verstummte, und die Hände, die sich unwillkürlich in einander gerungen, sanken gelöst in ihren Schooß. Sie schaute finster und forschend in das leidenschaftslose Frauenantlitz vor ihr.

„Schwester Beate,“ begann sie mit völlig veränderter Stimme, „Sie sagten mir bei meinem Scheiden, ich würde immer bei Ihnen eine Zuflucht finden, Sie würden mir in Ihrem Pensionat stets ausreichende Beschäftigung geben können. Ich komme heute, Sie darum zu bitten.“

„Es trifft sich günstig, liebe Elisabeth; in der vierten Classe ist die Stelle der Schwester Angelika frei geworden.“

Die Sprechende hielt bei diesen Worten dem jungen Mädchen ein Tellerchen mit Herrnhuter Gebäck einladend hin.

Sie wies den Teller zurück. „Wo ist Schwester Angelika?“ fragte sie.

„Abgereist, nach Afrika. Elisabeth, Du solltest doch essen, Du siehst so ermattet aus.“

„Nach Afrika? Als Missionärin vermuthlich.“

„Ja, sie wird ihren Gatten unterstützen, der in Natal eine Schule hält; das Loos traf sie, und so ist sie gegangen. Vor drei Wochen reiste sie ab.“

Das klang so ruhig, das war so einfach gesagt, als ob Schwester Angelika in einen Nachbarort zur Kirche gefahren wäre. Else kannte sie gut, das zarte blonde Mädchen, und sie wußte auch, daß die Gemeinde ihre Töchter durch das Loos zu verheirathen pflegte. Sie hatte nie darüber nachgedacht, jetzt packte es sie, wie etwas der Menschheit Unwürdiges.

„Und sie ging gern, Schwester Beate?“ fragte sie und griff mit der Hand an die schmerzende Schläfe.

„Gern? Das hat sie wohl Gott allein nur gesagt: aber sie weiß, daß es sein Wille ist, sie ging freudig.“

Es wurde still in dem kleinen Zimmer. Erdrückend schwer dünkte dem Mädchen die Luft darinnen. Schwester Beate saß jetzt über den Aufsatzheften vor dem Tisch am Fenster und corrigirte. „Du hättest einen Augenblick ruhen sollen, Elisabeth, Du siehst bleich aus und abgespannt,“ sprach sie dazwischen. Das Mädchen schüttelte den Kopf und legte, zu ihr tretend, die Hand auf ihre Schulter.

„Schwester Beate,“ begann sie mit zitternder Stimme, „Sie haben mir einmal gesagt – es ist noch gar nicht lange her – Wahrheit sei das Einzige, was uns retten könne aus Noth und Bedrängniß, sie stehe über allen andern Tugenden?“

Der kleine Frauenkopf unter dem blüthenweißen Häubchen nickte bejahend, ohne aufzuschauen. „Gewiß, liebe Elisabeth, Du warst immer ein ehrliches gutes Kind, soweit Menschensinn das beurtheilen kann.“

„Es klingt wunderlich, Schwester Beate, was ich Sie fragen will; aber nicht wahr, in Angelika lebte noch kein anderes Bild vorher, sie trat nicht mit einer Lüge vor den Altar?“

Jetzt sah sie auf, die stille Herrnhuterin. „Nein, Elisabeth, ihr Herz ist wie ein unbeschriebenes Blatt; wir leben still hier und abgeschieden und die Leidenschaften kommen nicht über unsere Schwelle, die draußen die thörichten Menschenherzen quälen und peinigen; wir kennen sie kaum vom Hörensagen. Du mußtest das wissen, Elisabeth; was willst Du mit Deiner Frage?“

Das Mädchen lag plötzlich vor ihr auf den Knieen und barg den Kopf in die Falten des grauen Wollkleides.

„Ich wollt’, ich wäre nie hinausgegangen, ich wollt’, ich hätte ihn nie gesehen!“ schluchzte sie.

„Steh’ auf, Elisabeth, und fasse Dich.“

Die Herrnhuterin strich mitleidig zärtlich über das Haar des Mädchens.

„Helfen Sie mir, Schwester Beate,“ flehte Else noch einmal und sah sie an mit den gerötheten nassen Augen, „daß ich nicht schlecht werde und nicht lüge! Sagen Sie meiner Tante, daß ich ihm schreiben muß und die Wahrheit aussprechen, um jeden Preis.“

„Ihm – Elisabeth?“

„Ja, dem, den sie meinen Bräutigam nennen seit drei Tagen.“

Die Schwester Beate erwiderte nichts darauf.

„Du bist immer mein Liebling gewesen, Elisabeth,“ sagte sie dann, „aber wird es Dir gefallen hier? Denke es Dir nicht so leicht, wenn man erst draußen war in dem bunten Leben, sich hier einzurichten in der Stille; als Lehrerin, nichts weiter als

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_211.jpg&oldid=- (Version vom 14.10.2020)