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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Es ist ein vom 28. März 1434 datirtes Schreiben des hohen Rathes der freien Reichsstadt Nürnberg an die nicht minder freie Reichsstadt Buchhorn am Bodensee, welches Schreiben von dieser Krone und einem dazu gehörigen Meßbuche handelt und lautet, wie folgt:

„Lieben Freunde! Der allergnädigste Fürst und Herr Sigmund, Römischer Kaiser etc. etc. etc., unser Gnädigster Herr, hat uns kürzlich geschrieben und uns geheißen, seine Kaiserliche Krone, die Seine Durchlaucht jeder Jahre in unserer Stadt gelassen hat, Euer Weisheit zu überschicken und auszuantworten. So meint Seine Kaiserliche Gnaden Euch eine Freudenbotschaft zu thun und Euch zu unterweisen, wie Ihr ihm die Krone fürbaß schicken sollt. Also nach söllichem (solchem) Geheiße schicken wir Euch diese Krone mitsammt einem Meßbuch, als Euch gegenwärtiger unser Knecht, Ausantworter dieses Briefes, wohl unterweisen wird, wo und wie Ihr deren bedürft, Euch derselben Dinge zu unterwinden und Seiner Kaiserlichen Majestät nach Seinem Geheiß und Wohlgefallen fürbaß zuzufügen, denn wo wir Euer Ehrsamkeit etc.“

Die Stadt, an welche dieser Brief gerichtet ist, die freie Reichsstadt Buchhorn, wird man heute selbst auf der großen Specialkarte des Bodensees und seiner Ufer vergeblich suchen. Gleichwohl ist dieselbe nicht von dem See verschlungen worden und nicht durch ein Erdbeben oder sonstwie von der Erdoberfläche verschwunden. Sie steht noch, aber sie verbirgt sich unter einem andern Namen. Als während der französischen Fremdherrschaft die einzelnen Theile des deutschen Gebiets vertheilt und hin und her geworfen wurden, wie es Napoleon I., dem mächtigen und gewaltthätigen Protector des rheinischen Bundes, beliebte, wurde die freie Reichsstadt Buchhorn, die allerdings sehr heruntergekommen war und nur noch 700 Einwohner, aber hunderttausend Gulden Schulden hatte, zuerst 1802 Baiern und dann 1810 Württemberg zugetheilt; und da dem König Friedrich von Württemberg auch das in der Nähe gelegene Kloster Hofen zugefallen war, so verwandelte er das Letztere in ein königliches Lustschloß und befahl am 17. Juni 1811, daß nunmehr das Ganze, Buchhorn und Hofen, zu einer Gemeinde vereinigt, den Namen „Stadt und Schloß Friedrichshafen“ führen sollten. So ist der Name der freien Reichsstadt zuerst aus der officiellen Topographie, und dann aus dem Gedächtniß der Menschen verschwunden.

An diese freie Reichsstadt also war das Nürnberger Schreiben vom 28. März 1434 gerichtet. In dem Briefe steht nicht, was Buchhorn mit der Krone und dem Meßbuche anfangen soll; vielmehr wird es lediglich auf die mündliche Botschaft des freireichsstädtisch-nürnberger Knechts verwiesen, der mit dem Transport der Krone betraut war.

Der Kaiser Sigismund verweilte damals in Constanz, etwas später in Ulm, wohin der Reichstag einberufen war. Warum man die Krone nebst Zubehör nicht direct nach Constanz, oder direct nach Ulm, sondern nach Buchhorn gesandt, warum man das Meßbuch beigegeben hat – nach Alledem fragen wir zur Zeit noch vergebens.

Aber wir haben wenigstens einen Anhaltspunkt zu einer kleinen neuen historischen Episode:

Die deutsche Kaiserkrone auf Reisen“.

Nur das wissen wir gewiß, daß sie nach Nürnberg zurück gelangt ist.

Im nächsten (und letzten) Capitel wollen wir ihre Schicksale bis zum heutigen Tage verfolgen.




Deutsche Selbstsucht und französische Großmuth.

Von Max Nordau.

In einem Buche, das gegenwärtig in Frankreich und über dessen Grenzen hinaus einen, ich muß sagen nicht ganz berechtigten, Lärm macht, in „Les Allemands“ (die Deutschen) vom Dominikaner Pater Didon, findet sich über den französischen und deutschen Nationalgeist folgende Stelle: „Obwohl die Selbstlosigkeit unter den Individuen häufiger ist, als unter den Völkern, giebt es doch auch unter diesen wie unter jenen eine Ehrlichkeit und Moral. Die Geschichte eines Volkes muß nicht nothwendig ein Gewebe von Verbrechen, der Nationalgeist eine ungezügelte Gewalt sein. Von allen Völkern der Welt ist das französische vielleicht das einzige, das in gewissen feierlichen Stunden seinem Nationalgeiste durch Gerechtigkeit und Hingebung Ehre zu machen gewußt hat. Gewisse Länder haben ihren höchsten Ruhm im Kampfe für ihre Unabhängigkeit gesucht; die französische Nation hat das Blut ihrer Söhne für den Triumph der Wahrheit und die Unabhängigkeit der befreundeten Nationen zu vergießen vermocht. Dagegen ist es der Vortheil, der persönliche Vortheil, der ausschließliche Vortheil, der die militärische Gewalt lenkt, welche Deutschland zum ersten Bestandtheil seines Volksgeistes gemacht hat. Ich habe niemals bei den heutigen Deutschen selbst in dem Alter, in welchem man den ritterlichen Ideen am zugänglichsten ist, eine schwungvolle Regung überraschen können, die über den Gesichtskreis des deutschen Vaterlandes hinausreichen würde. Diese Grenze zwängt den Germanen ganz und gar ein. Das Interesse ist sein oberstes Gesetz. Seine großen Staatsmänner sind blos geniale Utilitarier. Ihre selbstsüchtige Politik, die mehr nach Nutzen, als nach Ruhm gierig ist, hat niemals die leiseste Mißbilligung des Landes erfahren, welches widerstandslos und blind deren Orakel annimmt. Die Deutschen schaffen sich Bundesgenossen, aber keine Freunde. Die, welche sie an sich ketten, lassen sich nur durch das Interesse oder die Furcht packen, da sie an die ihrer harrende Zukunft denken müssen. Wie sollte man keine Furcht haben, wenn man der Gnade einer Macht überliefert ist, die nicht von Gerechtigkeit beseelt wird, und wenn die selbstsüchtige Kraft unbeschränkt herrscht? ... Deutschlands Uebergewicht in Europa bedeutet den allgemeinen Militarismus, die Herrschaft des Schreckens, der Gewalt, der Selbstsucht. Ich habe unzählige Male versucht, beim Deutschen irgend eine Sympathie für andere Nationen zu entdecken, es ist mir nicht geglückt.“

Soweit der Pater Didon. Die Behauptung, daß der Deutsche ein kalter Egoist und keiner Neigung zu einem fremden Volke fähig, der Franzose dagegen ein selbstloser Enthusiast und voll hingebender Liebe für die ganze Menschheit sei, ist der Ausdruck einer Vorstellung, die das französische Volk und die französische Literatur beherrscht, von der sie auf die ganze romanische Welt übergegangen ist, welche sie nun wie einen grundlegenden, unanfechtbaren Glaubensartikel bei jeder Gelegenheit ausspricht. Nun denn, diese Vorstellung ist mehr als eine alberne Ungerechtigkeit, sie ist eine empörende, himmelschreiende Undankbarkeit. Wie Fürst Bismarck einmal von sich im deutschen Reichstage behauptete, so kann auch das deutsche Volk von sich sagen, es sei das bestgehaßte in Europa. Man gönnt ihm nirgends seine Einheit, ja nur das nackte Bischen Leben. Diesen Haß können wir ertragen, denn wenn wir bitter werden wollen, so trösten wir uns mit unserem guten alten Sprüchworte: Besser beneidet als bemitleidet. Wenn die Nachbarn uns Ehrlichkeit und Offenheit, Muth und Treue absprechen, wenn sie uns schwerfällig und geistlos, unser Denken nebelhaft und verschwommen nennen, so beweisen sie nur, daß sie uns entweder nicht kennen oder uns nicht gerecht werden wollen, also entweder unwissend oder unwahr sind. Wenn sie aber sagen, der Deutsche sei ein Selbstling und keiner Sympathie für ein fremdes Volk fähig, so begehen sie eine Handlung, die viel schlechter ist, als Unwissenheit und selbst Unwahrheit: sie vergelten Liebe mit Verleumdung und schlagen die Hand, die sie so oft gestreichelt hat.

Das gerade Gegenteil der Behauptung des Paters Didon ist wahr. Man kann ruhig sagen, daß kein Volk auf Erden für Leid und Freud fremder Völker ein so offenes Herz hat wie das deutsche, daß kein Volk auch nur entfernt mit solcher Begeisterung, mit so überströmender Liebe an den Geschicken anderer Nationen Antheil genommen hat wie das deutsche, und ich bin gar nicht weit entfernt, zu behaupten, daß dies geradezu eine Schwäche des deutschen Nationalcharakters, daß der Deutsche mit seiner Sympathie viel zu rasch bei der Hand ist, daß er in seiner kosmopolitischen Sentimentalität seine Theilnahme selbst an Völker wegwirft, die nicht werth sind, daß er seinen Kopf nach ihnen umwende oder auch nur die Thatsache ihres Daseins auf Erden zur Kenntniß nehme.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_235.jpg&oldid=- (Version vom 16.8.2020)