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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

empfangen. Else saß inzwischen in ihrem Stübchen und schaute mit unendlicher Bangigkeit in die ziehenden Wolken, die den Mond bald verdeckten, bald einen Augenblick sein rundes volles Antlitz freigaben, für welch neckisches Spiel er ihre Contouren mit zartem Silbersaum umrandete. Was sollte nun werden? Schwester Beate hatte endlich alle Details erfahren und sie sagte sich auch, daß das arme Kind keine Wahl gehabt hatte. Sie kannte Frau von Ratenow genugsam aus ihren kernfesten Briefen, um nicht genau zu wissen, daß es noch einen schweren Kampf geben werde.

Nach Else’s Meinung mußte man schon vor einem Weilchen zurücksein vom Bahnhofe. Nun saßen gewiß die Beiden, die ihres Schicksals Fäden in der Hand hielten, in dem traulichen Stübchen und fochten für ihr sogenanntes Glück.

„Else! Else!“ rief da eine leise Stimme, „bist Du hier, oder nicht?“

Sie fuhr herum, und ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen sahen die kleine Mädchengestalt dort in der Thür und erkannten das kokette Frühjahrshütchen und das schmale aristokratische Gesicht unter demselben.

„Lili?“ fragte sie verwundert.

„Nun, Herr Gott ja, ich bin’s!“ lautete die Antwort; „ich hab mir’s just so ausgemalt Dich zu treffen, wie ich Dich treffe, in den Mond sehend, natürlich!

Mond, du bist glücklicher als ich,
Du siehst ihn, und ich seh’ ihn nicht!“

fuhr sie fort und riß das Hütchen vom Kopfe. „Lieber Himmel, giebt’s denn hier nicht ein Sopha? Ich bin zum Sterben müde. O Else, es ist eine haarsträubende Idee von Dir gewesen, die Flucht zu ergreifen.“

„Du hast Tante Ratenow begleitet, Lili? sie – ist sie da?“

„Na gewiß!“ Und die zierliche Gestalt warf sich auf das weiße Linnen des Bettes und streckte sich nach Herzenslust. „Das heißt, sie wäre natürlich mit allem Glanze in Halle sitzen geblieben ohne mich; Moritz hat das wohl gewußt, sonst hätte er mich mit dieser Reise gewiß verschont. Das ganze Coupé voll Mütter, Ammen und Babies, und dazwischen stets wie ein indischer Pagode, die Tante auf Deiner Fährte, und ich –. O Else, warum hast Du mir das gethan? Heute Abend ist Souper bei Cramms, und ich esse so gern Krebsragout mit Spargel!“

Else antwortete nicht; sie setzte sich stumm neben das Bett, auf welchem Lili ruhte, und sah ihr angstvoll in das Gesicht, aus dem die großen Augen trotz aller Klage höchst vergnügt blickten.

„Höre, Elschen, Du sorgst doch eigentlich sehr ausgiebig für interessanten Stadtklatsch,“ fuhr die Kleine fort. „Ich muß Dir gestehen, als Moritz heute Morgen die Alarmnachricht brachte und zugleich den Befehl für mich, Tante auf der Verfolgung des Flüchtlings zu begleiten, da hatte ich weiter keinen Wunsch, als heute Mittag im Officierscasino mitznessen; ich bin überzeugt, der Wirth macht ein Geschäft, man trinkt in der Aufregung ein Glas nach dem andern. Und Rost wird Dich sicher schon gezeichnet haben, so etwa als Nonne hinter dem Sprachgitter, und den Bennewitzer davor knieend, mit gerungenen Händen, mit Federbusch, Wams und Schwert, und darunter steht: ‚Ritter, treue Schwesterliebe widmet Euch dies Herz!‘ – Es ist ja g’rad’ hochmodern, das Altdeutsche. Wie Du aber nun auf diese Idee gekommen bist, das möchte ich gern wissen süßes Kind.“

Sie bekam keine Antwort; Else stand schon wieder am Fenster.

„Ich begreife Dich nicht,“ fuhr die kleine Schwätzerin fort, „ich finde den Bennewitzer zum Heirathen ganz wunderbar chic; ich versichere Dich, wenn er mich gewollt hätte – au moment! obgleich ich auch eine sogenannte Herzensliebe – hier –“ sie zeigte auf die Brust – „sitzen habe. Man muß sie haben, weißt Du, Else; an wen soll man sonst denken, wenn man Gedichte liest, zum Beispiel Geibel oder Strachwitz? Dazu ist sie höchst nothwendig; aber gleichviel, ich hätte den Bennewitzer doch geheirathet. Wie reizend, wenn Er uns nachher wiedersieht, gefesselt an einen Andern; es muß ihm ganz ‚heinisch‘ zu Muthe werden; ‚ewig verlornes Lieb – ich grolle nicht!‘. Man braucht darum noch lange nicht elend zu sein, das ist nur bei den Poeten so – aber interessant ist es, höchst interessant, Else! – Else, sei mir nicht böse,“ schmeichelte dann plötzlich die flüsternde Mädchenstimme, und zwei weiche Arme umschlangen sie; „ich bin nicht so schlimm, wie ich aussehe, und wenn Du mir versprichst, nicht mehr zu weinen – Du denkst, ich sähe es Dir nicht an? Ich sage Dir, wie die Hexenaugen hast Du Dir Deine schönen lieben Gucken geweint – so erzähle ich Dir etwas, das Dich riesig freut.“

„Mich freut nichts mehr, Lili,“ klang es traurig zurück, und die Stirn preßte sich an die Fensterscheiben.

„Ich habe ihn gesehen, Else,“ flüsterte es noch leiser, „leibhaftig und in Lebensgröße!“

„Den – den Onkel?“ stöhnte das geängstigte Mädchen. Es war ihr entsetzlich, nun hören zu müssen, wie er diesen Schlag in’s Gesicht, von ihrer Hand geführt, aufgenommen. Sie sah ihn vor sich, so deutlich, wie er neben ihr gestanden am Grabe des Vaters und sie so gütig, so mitleidig angesehen. Da hatte sie schon die Hand erhoben zu diesem Schlage, und hatte sie dann kraftlos wieder sinken lassen.

„Den Bennewitzer? Den armen abgesetzten Toggenburger? Den meine ich nicht,“ fuhr die Kleine fort und schmiegte sich enger an die zitternde Gestalt. „Ihn nennen wir Mädchen doch nur Einen, den einzig Einen! Else, geh’, stell’ Dich nicht so kindisch an, Du bist ja neunzehn Jahre alt und warst in Pension. Ja so,“ kicherte sie, „bei den Herrnhutern, das vergesse ich immer; da lernt man so etwas nicht, da sind wohl die Pensionsmädel bis zum achtzehnten Jahre lauter kleine frischgewaschene Unschuldsengel? Ich war in G. und konnte von unserem Schulzimmer just auf den Casernenhof sehen, und Jede von uns nannte Einen dort unten Ihn. – Also, ihn habe ich in Halle gesehen – Else, begreifst Du es? Den Geigenkasten hatte er in der Hand und Civil trug er, na – nicht just das Allermodernste, aber darüber drückt man bei den Herren vom Militär ein Auge zu; es ist praktischer für eine große Stadt, sie können darin zum Beispiel Omnibus fahren ohne aufzufallen durch Eleganz – na Else, was sagst Du?“

Else rührte sich nicht.

„Und gesprochen habe ich ihn – fahre nicht so erschreckt herum, Else, Tante hat’s nicht gesehen, sie conferirte schon mit dem Packträger auf dem jenseitigen Perron. Ich löste die Billets – da stand er im Gewühle –; hübsch ist er, Else, wirklich. Ich kannte ihn zu wenig, um ihn anzusprechen, hatte nur einmal flüchtig mit ihm getanzt, aber – man weiß sich doch zu helfen. Bums! lag mein Regenschirm zu seinen Füßen, im Vorübergehen; natürlich hob er ihn auf. ‚O, ich danke tausendmal, Lieutenant Bernardi!‘ – Er stutzte. ‚Ich habe große Eile,‘ sprach ich, und nannte meinen Namen: ‚Lili Teesfelde, reise mit Tante Ratenow nach D., Else Hegebach wieder einzufangen, sie will absolut in’s Kloster gehen!‘. Du hättest ’mal sein Gesicht sehen sollen! ‚Ja ja, in’s Kloster,‘ nickte ich, ‚weil sie ihren Onkel nicht heirathen will. Leben Sie wohl, Lieutenant Bernardi!‘ – Ich ließ ihn stehen und drängte mich heldenmüthig durch das schreckliche Gewimmel der Billethalle, aber wie ich eben in das Damencoupé schweben will, da steht er auch an unserem Zuge und steigt in das Nebencoupé. Ein Glück, daß Tante am jenseitigen Fenster saß. Ich mußte sehr oft Luft schöpfen, er auch; auf den Stationen nämlich. Tante fragte unterweilen über die Ammen und Babies hinweg: ‚Sprichst Du da, Lili?‘ Worauf ich dann – na, ich kann verwundert aussehen, sage ich Dir – kurz und gut, er weiß tout und – ich sollte doch recht gut, recht herzensgut mit Dir sein! Das sagte er noch, als ich vorhin ausstieg; er fuhr weiter. Und wenn ich Dir nun noch erzähle, daß er einen Kranz geschickt auf Deines Papa’s Grab, und daß er jetzt auf Urlaub nach Hause geht, so habe ich Dir Alles gesagt.“

Else hatte aufgehört zu weinen. Wie ein goldner Schleier war es auf sie herabgesunken; sie riß das Fenster auf und bog sich hinaus und schaute in den silberübergossenen Frühjahrsgarten hinunter; eine Nachtigall schlug süß und voll im Lindenbaume, und ihr Herz pochte zum Zerspringen. Er dachte ihrer! Er hatte von ihr gesprochen am elendesten Tage ihres jungen Lebens! O, des großen, allzu großen Glückes!

Und dann fuhr sie zurück, klirrend stieß sie das Fenster zu und schlug aufweinend die Hände vor das Gesicht. Was half es ihr? Sie war ja doch nur ein armes Mädchen!




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 239. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_239.jpg&oldid=- (Version vom 13.11.2020)