Seite:Die Gartenlaube (1884) 266.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Fischerleben am Scheveninger Strande.

Jenseits der Dünen, die sich am Strande des berühmten holländischen Seebades Scheveningen erheben, liegt das gleichnamige Fischerdorf, dessen Bewohner, obwohl sie alljährlich das fashionable Treiben der aus allen Nationen zusammengewürfelten modernen Gesellschaft zu schauen gewohnt sind, dennoch an der alterthümlichen Tracht und Sitte ihrer Vorfahren mit hartnäckiger Zähigkeit fest gehalten haben.

Wer das Dorf dnuchwandert, wird den Eindruck einer gewissen Behäbigkeit empfangen, und in der That sagt hier der erste Eindruck das Richtige. Es herrscht viel Wohlhabenheit in Scheveningen, obwohl von den 7500 Einwohnern weitaus die meisten das sonst nicht sehr einträgliche Fischergewerbe betreiben. Aber „Viele Wenig machen ein Viel“ sagt das Sprüchwort, und so repräsentirt auch die Scheveninger Fischerflotte mit ihren 300 Barken ein stattliches Capital.

Diese einmastigen, solid gebauten Fahrzeuge werden von dem „Patron“, einem älteren, erfahrenen Fischer, geführt und mit siebeneinhalb Mann besetzt. Der halbe Mann, meist ein Junge von dreizehn bis vierzehn Jahren, ist der Mannschaft das „Mädchen für Alles“, das wahre Aschenputtel zur See, welches überall und nirgends zu gleicher Zeit sein soll und sicherlich stets da zu finden ist, wo es unliebsame Arbeit giebt. Dabei gucken die blauen ernsten Augen so hoffnungssicher in die gekräuselte Weite, als müsse der nächste Fang ihm, dem schlechtstbesoldeten, den goldenen Wunderschatz heben, der das Glück bringt.

Begnügt sich das Aschenputtel mit dem geringsten Verdienst, so ist auch derjenige der übrigen Mannschaft nicht gerade glänzend; immerhin reicht er jedoch aus, Weib und Kind zu ernähren. Nur der Patron genießt eines besonderen Vortheils, ihm fällt ein gewisser Procentsatz vom Gewinne zu.

Die holländischen Fischerbarken stehen bei den Seeleuten von der „großen Fahrt“ in schlechtem Renommée, denn ihnen geht in Folge ihrer schwerfälligen Construction das ab, was der Seemann für die erste und beste Eigenschaft eines Schiffes hält, Schnelligkeit. Man muß diese plumpen Dinger mit einem Mast, an welchem ein mächtiges Segel sich bläht, ohne den Körper wesentlich von der Stelle zu schaffen, auf den kurzen harten Wogen der Nordsee haben schaukeln sehen, um zu begreifen, wie die Leute, so auf den großen schlanken Segelschiffen unter dem Winde fast mit Dampfergeschwindigkeit an ihnen vorbeifahren, verächtlich auf sie herabblicken. Doch die holländischen Fischer und ihre Barken machen sich wenig daraus. Letztere scheinen etwas von dem Phlegma ihrer Besatzung angenommen zu haben, und da es bei ihnen weniger auf Schnelligkeit ankommt, als auf Zähigkeit den schauderhaften Unbilden der Nordsee gegenüber, so ist ihre Bau-Art als sehr zweckmäßig anzuerkennen.

Iu kleineren oder größeren Geschwadern ziehen die Barken hinaus. Häufig werden Segelschiffe, die von langer Reise heimwärts kommen, von den Fischern angesprochen, welche ihre Waare gegen ein Stück Salzfleisch, Brod oder Genever anbieten und dem großen Schiffe ist der Tausch willkommen, denn er bringt frische Speise in die erdrückende Eintönigkeit von Sauerkraut, Erbsen und Stockfisch.

Kein Fisch, so dem menschlichen Gaumen genießbar erscheint, ist sicher vor der Kunst der holländischen Fischer. Im Großen und Ganzen richten sie ihr Augenmerk auf den täglichen Consum und müssen darum die schuppige, leicht verderbende Waare möglichst frisch an den Markt bringen. Die Abwesenheit der Fischerleute dauert dementsprechend nur wenige Tage. Die Barken kommen einzeln an, sie werden am Strande bereits von den Weibern erwartet, welche die Beute in großen Körben, die sie auf dem Kopfe tragen, nach dem Haag schaffen. Die Thürme der eleganten Residenz winken aus der Ferne herüber. Der frische Seefisch ist dort sehr begehrt und findet von dort aus auch seinen Versand in das Binnenland.

Doch zurück an den Strand von Scheveningen! Mag der Regen strömen oder dichter Nebel sich in gespenstischen Formen herunwälzen, immer wird die Ankunft eines Fischerbootes von einem Menschenhäuflein sehnlichst erwartet, welches von den heimkehrenden Fischern den „Antheil der Armen“ empfangen soll. Einem alten schönen Herkommen gemäß besteht dieser Antheil in allen den Fischen, welche beim Fange beschädigt, dadurch unansehnlich und zum Verkaufe untauglich geworden sind. Diese zerrissenen, zerbrochenen, doch immerhin frischen Fische bilden fast die einzige Nahrung der Armen von Scheveningen. Es kommt aber auch vor, daß ein mitleidiger Patron hier und da einen besonders feisten Fisch als Extragabe hinzufügt. Dankbar, wenn auch ohne viele Worte, wird jede Gabe hingenommen.

Wer sind aber die Armen und Elenden, die auf dieses kärgliche Existenzmittel angewiesen sind und die dem Leser in dem Bilde von dem Brüsseler Maler Felix Cogen so ergreifend entgegentreten? Es sind ausschließlich Wittwen und Waisen von solchen Fischern, die durch ihr Gewerbe den Tod fanden. Ein trauriges Dasein führen diese Armen. Mit jener stillen Resignation, welche den Menschen faßt, wenn er ein unabwendbares Geschick kampflos über sich ergehen lassen muß, leben sie ihre Tage hin. Es liegt ihnen fern, mit ihrem Elende geflissentlich das Herz fremder Menschen rühren zu wollen. Hält auch der Rock kaum mehr zusammen, er ist niemals unsauber noch zerrissen. Schlicht und still wie die Weiber, betragen sich auch die Kinder, die, von der Noth des Lebens geschüttelt, frühzeitig lernen, jedem Anspruch auf Lebensfreude zu entsagen. Ein Trost bleibt ihnen aber erhalten, das Mitleid der biederen Fischerbevölkerung, welche diese Wittwen und Waisen ihrer ehemaligen Nachbarn und Freunde nicht darben läßt. Es droht ja Jedem von ihnen ein ähnliches Geschick, denn ihr Handwerk ist stets mit Gefahr für Leib und Leben verbunden.

Kommt im Frühlinge die Zeit heran, wo sich die Häringszüge an den schottischen und norwegischen Küsten einzustellen pflegen, dann gehen die Fischerboote von Scheveningen in großen Geschwadern nordwärts. Langsam nur kann sie der Wind ihrem Bestimmungsplatze zuführen, denn der plumpe Bau gestattet, wie schon oben bemerkt, keine schnelle Bewegung. Dafür setzt er aber den Launen der tückischen Nordsee kräftigen Widerstand entgegen. So kann die Reise zehn bis vierzehn Tage dauern, zerstreut auf der weiten Meeresfläche erwarten die Männer den Segen des Meeres. Aber die Frühlingszeit ist für den Seemann eine schlimme, dem Drängen und Treiben der Knospen und Blüthen geht der Kampf zwischen Winter und Sommer, zwischen Nacht und Licht voraus, und nirgends äußert sich dieser Kampf intensiver, als in den Aequinoctialstürmen auf der See. Die am Land Zurückgebliebenen horchen ängstlich, wenn die Windsbraut einherrast, das Meer gegen die Küste peitscht, bis die Wellenköpfe über die Dämme schauen und die Deiche unter der Wucht erzittern. Dann ist’s unheimlich am Meeresstrande und Hunderte von Menschenherzen erbeben. Denn wenn ein solcher Sturm eine Häringsflotte trifft, so ist Gefahr vorhanden, mehrere hundert Menschen auf einmal dem Tode geopfert zu sehen.

Wie bang schauen die Zurückgebliebenen, die Weiber und Kinder, hinaus in die Finsterniß, wie horchen sie dem Getöse des Orkans, wenn er an den kleinen Fenstern rüttelt! Vielleicht ist es dieser Augenblick oder jene Minute, die der Familie den Vater, den Ernährer raubt! Und nicht nur unter einem Dache wohnt die Sorge: in jedem Haus, in jeder Hütte wachen Angst und Kummer. Nur die Säuglinge schlummern friedlich in Unkenntniß dessen, was vorgeht, was sie vielleicht verlieren; sowie jedoch des Kindes Bewußtsein erwacht, nimmt es auch Theil am allgemeinen Leid, und darum sind die Kinder der Fischer von Scheveningen still und ernst, sie kennen den fröhlichen Muth der Jugend nicht.

Die Sonne lacht in strahlendem Glanze herab; ohne durch das kleinste Wolkenfetzchen getrübt zu sein, spannt sich tiefblauer Himmel über Land und Meer. Es rollen die grünen Wellen heran, ihre Schaumkronen sprühen zu den Füßen der Menschen, die, im feuchten Sande stehend, hinausspähen in die lichtdurchzitterte Meeresweite. Die Frauen legen die Hand schützend über die Augen, jedes weiße Segel am Horizont läßt die Herzen schneller schlagen. Doch die Segel ziehen vorüber nach Westen und Osten und die Brandungskämme raunen ihre eigene Sprache, sie wissen nichts zu erzählen von den Schauern der Sturmesnacht. Es gehen Tage hin und Wochen, welche den in Sorge Harrenden gar lang erscheinen.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_266.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2021)