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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

literarischer Vergessenheit an’s Tageslicht heraufgeholt worden waren, bekam der Knabe frühzeitig zu lesen. Daneben bildeten Schiller’s Dramen und die Werke eines viel neueren und viel geringeren, damals aber hochgeschätzten Dichters, de la Motte-Fouqué’s, seine erste poetische Lectüre. Gründlich, jedoch nicht engherzig, wurde der Unterricht im Lübecker Gymnasium geleitet; frei und frisch, ohne dumpfen Zwang, konnte auch hier Geibel’s Jugendleben erwachsen. Und schon rührte sich der Trieb zum Dichten in der Seele des Jünglings. Freiwillig fügten sich im erregten Gemüthe dem Entzückten die Reime; ohne Regel glückten ihm die Verse. Kein Geringerer als Chamisso druckte das erste Gedicht des Achtzehnjährigen, der sich hinter dem Pseudonym L. Horst verbarg, in seinem deutschen Musenalmanach für 1834 ab. Im Frühlinge 1835 bezog der angehende Philologe die Universität Bonn, ein Jahr später die Berliner Hochschule. Sein Vater dachte sich ihn schon als künftigen Lehrer am Gymnasium der alten Hansastadt. Aber die Glücksgöttin meinte es besser mit Geibel. Hitzig, Houwald, Franz Kugler und Andere, vor Allem aber Chamisso und Bettina von Arnim nahmen sich in Berlin freundlich des jungen Studenten an. Der hatte nun freilich andere Wünsche und Pläne, als sein alternder Vater. Zumeist war es das Verlangen nach dem Anblicke Griechenlands, der altehrwürdigen, jetzt wieder vom vielhundertjährigen Joche der Sclaverei befreiten Heimath ewiger Schönheit, was den heranwachsenden Poeten in hoffnungsloser Sehnsucht verzehrte. Bettina schaffte Rath. Durch ihre und des berühmten Rechtsgelehrten Savigny Vermittelung erhielt Geibel eine Hofmeisterstelle bei dem russischen Gesandten am griechischen Hofe, dem Fürsten Katakazi. Im Mai 1838 traf er in Athen ein.

Emanuel Geibel.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Er hatte sich über die Kinder, die seiner Obhut anvertraut waren, nicht zu beklagen; und die Eltern behandelten ihn auf die freundlichste und wohlwollendste Weise. Aber den ganzen Tag von früh bis spät nahm das leidige Hofmeistern ihn in Anspruch; nur wenige Abendstunden und dann und wann ein Sonntag blieben dem Dichter für sich und seine Studien übrig. Auf die Dauer konnte sich Geibel nicht darein finden. Schon nach Jahresfrist löste er seinen Dienstvertrag mit Katakazi, beschränkte zunächst die Anzahl der Stunden, die er in seinem Hause gab, machte sich dann ganz davon los und unternahm im August 1839 eine Reise nach den Inseln des Archipels. Mehr und mehr befestigte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 281. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_281.jpg&oldid=- (Version vom 8.1.2021)