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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 20.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Salvatore.
Napoletanisches Sittenbild. Von Ernst Eckstein.
(Fortsetzung.)


6.

Die Zingarella begab sich sofort nach dem „Leon Bianco“. Der überraschten Padrona trug sie ein Märchen vor; übrigens waren der feisten, schläfrigen Dame die Beweggründe Maria’s ja ziemlich gleichgültig. Das Mädchen wußte sich den eigenthümlichen Drang ihres Herzens vielleicht selber nicht zu erklären. War es ein Rest von Mißtrauen in die Person jenes geheimnißvollen Polizei-Aspiranten? Setzte sie Zweifel in die redliche Absicht des Cardinals? Oder machte sich überhaupt eine unerwartete Klarheit geltend, ein lichter Moment gleichsam in dem wahnwitzigen Rausch ihrer Verblendung? Das war schwer zu entscheiden. Vielleicht sogar entsprang ihre Absicht nur einer heftigen Neugier.

Am folgenden Tag, als es noch dämmerte, machte die Zingarella sich auf den Weg nach dem Albergo zum „Goldnen Kreuz“. Um diese Zeit schlief noch Alles, mit Ausnahme des niederen Dienstpersonals; es war also Aussicht vorhanden, die kleine Giulietta ungestört sprechen zu können.

Im Thorweg traf Maria einen Facchino, der mit dem Besen aus Spartgras die großen Basaltplatten kehrte. Sie fragte nach Giulietta Barrili, die vor Kurzem hier in Dienste getreten.

„Ach, die …?“ versetzte der Knecht. „Die hat das dritte Geschoß. Soll ich was ausrichten?“

„Wenn’s angeht, möchte ich selbst mit ihr reden. Wollt Ihr sie rufen, oder soll ich hinaufgehn?“

„Wie’s Euch genehm ist. Ihr trefft sie um diese Zeit in der Weißzeug-Kammer, – rechts am Ende des langen Corridors; da sortirt sie und flickt sie. Besser ist’s schon, Ihr bemüht Euch hinauf, denn die Haushälterin kann jeden Augenblick vom Frühstück herauskommen, und Die ist streng, Signorina, streng wie ein Satan!“

Maria dankte ihm und begab sich leisen Schrittes, als wünsche sie nicht bemerkt zu werden, in’s dritte Stockwerk. Die Thür der Weißzeug-Kammer stand offen und ließ einen Streifen röthlichen Morgenlichts auf den dunklen Corridor fallen. Unschlüssig trat Maria näher. Sie war ernstlich im Zweifel, wie sie ihr Anliegen bei Giulietta vorbringen könne, ohne Verdacht zu erregen.

„Grüß Dich Gott, Zingarella!“ klang es von den Lippen Giulietta’s. „Das nenn’ ich doch eine reizende Ueberraschung! Ich dachte schon, wie Du vorgestern so kalt und fremd Deiner Wege gingst, Du seiest zu stolz und wollest mit der Cameriera nichts mehr zu thun haben, – Deines Apuliers wegen! Schade, daß ich bis über den Kopf in der Arbeit stecke! Grade so Morgens …! Nun, ein Viertelstündchen wird sich erübrigen lassen: ich bring’s nachher wieder ein.“

„Ich komme mit Absicht so früh,“ sagte Maria. „Etwas sehr Wichtiges hab’ ich mit Dir zu besprechen, – und die Sache ist eilig. Sind wir ganz ungestört?“

„Ganz ungestört. Hier zur Linken befindet sich eine Trödelbude – weißt Du, ein Raum, wo altes Gerümpel, halb zerbrochene Möbel und sonstiger Kram verwahrt ist; – hier aber, rechter Hand, das Zimmer steht leer; – beiläufig gesagt: das einzige unbesetzte im ganzen Haus; denn es ist geradezu schrecklich, was jetzt an Fremden so nach Neapel strömt.“

Das Antlitz Maria’s bedeckte sich mit einer flammenden Röthe. Zum ersten Male in ihrem Leben sollte sie ernstlich Komödie spielen. Es widerstrebte ihr ganz unbeschreiblich, zumal dem einfachen, ehrlichen Geschöpf gegenüber, das, noch eh’ sie zu sprechen begann, mit gläubiger Neugier zu ihr emporschaute. – Aber das half nur Nichts. Hatte sie’s einmal sich vorgesetzt, so mußte sie ihre Rolle auch durchführen, – möglichst naturwahr und mit allen erforderlichen Nüancen.

Sie preßte also die Hand wider die Augen, halb aus jenem schauspielerischen Instincte heraus, der von Urzeiten ein Erbstück des Weibes ist, halb um ihre Scham und ihre Verwirrung zu bergen.

„Ach, Giulietta,“ seufzte sie, „wenn Du ahntest, was die unglückliche Zingarella zu leiden hat!“

Die gute Giulietta legte ihr die Hand auf die Schulter.

„Du?“ rief sie erstaunt. „Die Braut Salvatore’s? Aber wahrhaftig, Du siehst ganz sonderbar aus, – wie verstört – und Deine Wangen glühen so fieberisch! Sprich doch, Maria, was ist geschehn?“

„Wenn Du’s geheim halten willst –“

„Das versteht sich von selbst.“

„Niemals ein Wort davon reden –“

„Mit keinem sterblichen Menschen!“

Maria athmete schwer. Dann sagte sie halblaut: „Ich fürchte, mein Salvatore verräth mich.“

„Unmöglich!“

„Ich habe die bestimmtesten Anzeichen. Neulich schon, als er nach Capri kam, war er nicht völlig wie sonst.“

„Ja, ja, mir selber ist’s aufgefallen,“ meinte Giulietta. „Er schien so ernst, so gedankenvoll, wie er an’s Ufer stieg …“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 325. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_325.jpg&oldid=- (Version vom 15.6.2023)