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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Er mochte sich sagen, daß eine gewisse Grenzlinie der Glaubwürdigkeit nicht erreicht werden durfte, wenn es gelingen sollte, ihn später in der Meinung Neapels vollständig rein zu waschen. Der Bühnenkünstler, wenn er den sterbenden Fechter spielt, muß sich hüten, die Naturwahrheit bis zur Durchstoßung der eignen Brust zu treiben.

Gleich darnach überkam ihn eine Besorgniß völlig entgegengesetzter Art.

Salvatore empfand vor den Künsten der advocatorischen Beredsamkeit einen kindlich-naiven Respect.

Die hyperbolischen Wendungen, wie sie im Volksmund gäng und gebe sind: daß ein Rechtsgelehrter aus Schwarz Weiß machen, daß er durch seine Geriebenheit die größten Missethäter als schuldlos darstellen und sie von aller Strafe befreien könne, spukte auch im Gehirn des Apuliers. Einige mißverstandene Fälle aus der Praxis des Rechtsgelehrten, bei welchem er arbeitete, unterstützten dies Vorurtheil. –

Nun hatte Antonio Cesari die günstige Meinung, die er von Salvatore hegte, und namentlich das Bethört- und Verblendetsein, im Gegensatze zur wirklichen Missethat, so energisch betont, daß der Apulier die Möglichkeit eines Erfolges voraussah, welcher dem Endziel des ganzen Planes schnurstracks zuwiderlief.

Wenn Cesari erreichte, daß man dem Beschuldigten die Zurechnungsfähigkeit aberkannte, – wenn man ihn freisprach: dann war der Eindruck des Attentats auf die Nation von Grund aus zerstört, und nichts von Alledem ward geerntet, was der Apulier zum Heil der Regierung unter so großen Opfern gesäet hatte. Wer aber konnte wissen, ob alsdann nicht auch Monsignore De Fabris den Pact für gelöst hielt und sich weigerte, die verfehlte Leistung so zu belohnen, wie er’s vereinbart hatte?

So schwankte Salvatore Padovanino, ein Spielball seiner unermüdlichen Einbildungskraft, von Extrem zu Extrem, hier wie dort hoffend und fürchtend, ein Mensch, der kaum noch selbst wußte, wie ihm zu Sinne war.

All’ diese Befürchtungen aber schienen gering im Vergleich mit der Einen, welche ihn jetzt plötzlich ergriff, wie mit Geierkrallen.

Antonio Cesari hatte sich ein wenig zur Seite gewandt, so daß die Lucke, durch die das Licht fiel, sein Antlitz und die tief nachdenklichen Augen voll bestrahlte. Der Blick dieser Augen schien bei aller Gelassenheit so durchdringend, und das Verlangen, die Wahrheit zu finden, malte sich so unverkennbar auf den energisch gemodelten Lippen, daß Salvatore von dem Gedanken durchzuckt ward: „Wie? Wenn dieser Cesari Alles durchschaute? Wenn er entdeckte, daß deine That nur Komödie gewesen?“

Der Untersuchungsrichter war glücklich getäuscht worden; das Tribunal würde der Angelegenheit mit vorgefaßter Meinung entgegentreten und stark unter dem Einflusse dessen stehen, was der Untersuchungsrichter protokollirt hatte. Antonio Cesari jedoch machte den Eindruck der vollkommensten Selbstständigkeit, und wenn er nun das Gewebe Faden um Faden auflöste, wenn er seinen Clienten durch Kreuz- und Querfragen in die Enge trieb und den Zusammenhang so enträthselte: war dann vorauszusehen, daß er schweigen würde?

Schwerlich!

In erster Linie zwang ihn ja seine Pflicht als Vertheidiger zur Enthüllung, – denn dem Tribunal gegenüber verbesserte er ganz augenscheinlich die Situation des Beschuldigten. Mochte man das Schein-Attentat noch so bedenklich finden: es fiel doch nicht annähernd so schwer in die Wagschale, als der Mordversuch.

Dann aber hatte Antonio Cesari, als glühender Anhänger seiner Partei, ein Interesse daran, das unheilvolle Verbrechen, das man jetzt den Principien der „Freheitsfreunde“ aufbürdete, in das schlau geplante Manöver der königlichen Regierung aufzulösen.

Salvatore, so leicht er sich durch die schamlosen Gaukeleien Marsucci’s hatte bethören lassen, besaß doch Urtheil genug, um zu begreifen, daß eine solche Entlarvung – die seiner Meinung nach ja den wirklichen Cardinal compromittirte – ein wahrer Triumph sein mußte für Alles, was zur Opposition zählte. Es schien ihm daher nicht zweifelhaft, daß Antonio Cesari, wenn er Verdacht schöpfte, Alles aufbieten würde, dem wahren Sachverhalt auf die Spur zu kommen. In diesem Falle jedoch war das Resultat des mühsam geplanten Werkes nicht nur abermals in Frage gestellt, sondern für Salvatore ergab sich, seiner Meinung nach, eine ernste Gefahr: die Ungnade des Monsignore De Fabris. Was die zu bedeuten hatte, – davon machte sich der erregte Apulier die ausschweifendsten Vorstellungen . . .

Sofort entschloß er sich, über jedes Wort seiner Zunge mit der äußersten Sorgfalt zu wachen, und, wenn ihm nichts Anderes übrig bleibe, lieber den wahnsinnigsten Fanatismus zur Schau zu tragen, als Raum zu lassen für die Ermittelung jenes abgekarteten Spiels. Er schalt sich im Stillen feige, daß er sich von dem Anblick dieser ernsten, männlichen Züge so hatte verblüffen lassen, – und absichtlich verlängerte er das Schweigen, das ursprünglich die Folge seiner Unsicherheit und Erregtheit gewesen. Er hoffte so bei Cesari den Eindruck düstrer Verstörtheit und theilnahmloser Erbitterung hervorzurufen.

„Salvatore Padovanino,“ hub der Rechtsbeistand nach einer langen Pause des Nachdenkeus an, „Eure That hat mich nicht überrascht.“

Bei diesen Worten fuhr der Apulier aus seiner erkünstelten Starrheit unwillkürlich empor.

„Wie?“ fragte er staunend. „Also Ihr kanntet mich?“

„Ich sah Euch in Capri, wo ich die Ferien verbrachte; Ihr stiegt aus dem nämlichen Marktschiff, das auch mich über den Golf trug. Unter der Fahrt hatte ich nicht auf Euch Acht: als ich aber hinaufschritt in der Richtung der Stadt, da machte ein Freund mich aufmerksam auf Eure Erscheinung, die – das wißt Ihr wohl selbst – nicht der ersten und besten gleicht.“

„Und da gewahrtet Ihr . . .?“ stammelte Salvatore, fassungslos über die Sicherheit dieses Auftretens.

„Da gewahrte ich, daß Ihr ein Mensch seid, fähig zum Ungewöhnlichen, verzehrt von einer inneren Rastlosigkeit, die planlos nach hundert Zielen schweift und ihre tollsten Träume in Handlung umsetzt, sobald der Zufall ihr die Gelegenheit bietet. Ich las es Euch an der Stirn, daß Ihr die Keime des Großen und Rühmlichen, wie die des Verwerflichen in Euch trugt, – und ich bangte für Euch, denn die Leidenschaftlichkeit Eures Blickes ließ mich befürchten, daß Euer Urtheil unschwer zu trüben sei. Später sah’ ich Euch nochmals, – an der Seite Eurer Verlobten – und da nerkte ich, daß mein Auge sich nicht getäuscht hatte! So dämonisch ist Eure Eigenart, daß Ihr mit Euren Phantasmen sogar die starke, klare Seele des Mädchens völlig zur Sclavin macht.“

Salvatore tastete mit der Hand nach der Mauer. Er fühlte, wie die Kniee ihm wankten.

War dieser Avvocato allwissend?

Bei San Gennaro, es sah so aus! Sprach er nicht jetzt schon, da Salvatore kaum ein Wort über die Lippen gebracht, beinahe unumwunden die Meinung aus, Maria sei Mitwisserin? Oder war Salvatore nur so eigenthümlich erregt, daß er die Worte Cesari’s so weitgehend auslegte?

Der Apulier pries sich in diesem Momente glücklich, dem Verlangen Emmanuele’s nachgegeben und Maria bestimmt zu haben, daß sie beim Bekanntwerden des Attentates zum Scheine sich von ihm lossage. Es war ihm schwer gefallen, unsäglich schwer – aber nun zeigte es sich, daß Emmanuele ein schlauer Kopf war, der Alles klug in Erwägung zog! – Jetzt in dem Augenblicke, da Antonio Cesari sprach, hatte Maria unzweifelhaft ihr Spiel schon in Scene gesetzt. Wenn das der Avvocato erfuhr, so mußte es dem Verdacht des Einverständnisses zwischen Maria und Salvatore wohl den Todesstoß geben. Daß ihm jedoch die Kunde zu Ohren kam – dafür sollte unverzüglich gesorgt werden.

So griff denn Salvatore die Worte des Avvocato über Maria auf. Befähigt, sich in jede Stimmung hineinzureden, sodaß er beinahe selbst an sie glaubte, lieh er der Schilderung seiner inneren Kämpfe ein Colorit von überraschendster Wahrheit. Er berichtete, wie er geschwankt habe zwischen den beiden Wegen, an deren Kreuzung er stand: der eine habe ihm als mühelos zu erreichendes Ziel das Glück der Liebe gezeigt, der andere jenseits einer langen Reihe von Opfern die Errettung des Vaterlandes und das stolze Bewußtsein, der Angebeteten, wenn Alles geglückt wäre, den unsterblichen Ruhmeskranz zu Füßen zu legen. – Nach langem Zögern habe er sich endlich für die gefahrvolle That entschieden. Nun sei Alles zu Ende. – Er kenne sein Schicksal – und mit Standhaftigkeit würde er auch das Schwerste ertragen, wenn der Gedanke an die Geliebte nicht wäre ...

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 344. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_344.jpg&oldid=- (Version vom 31.5.2021)