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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Beweggründe unterschieben, zu welchen er sich nicht selber bekennt, und warum soll eine Stadt es sich nicht zur Ehre rechnen, den Reichstag, der ja früher stets auf der Wanderschaft war, auch einmal in ihrer Mitte zu haben? Und endlich, haben nicht ähnliche Motive, wie die oben angedeuteten, in anderen Ländern mit repräsentativen Verfassungen obgewaltet? Hat nicht die amerikanische Union den Sitz des Congresses statt nach einer der volkreichen Städte nach dem verhältnißmäßig kleinen Washington gelegt? Und hat nicht Frankreich sein Parlament von der Hauptstadt nach dem stillen und todten Versailles verlegt? Freilich geschah letzteres nur nach einem so unerhörten Ereignisse, wie es der Commune-Aufstand war, und auch dann nur auf kürzere Zeit.

Wenn man aber den Gang der deutschen Geschichte auf ein Jahrtausend rückwärts überblickt, wenn man vergleicht, was der Reichstag in dem alten heiligen römischen Reiche deutscher Nation war und was er in dem gegenwärtigen modernen deutschen Reiche ist, und wenn man endlich Umschau hält über Alles, was darum und daran hängt, so wird man zu der Ueberzeugung gelangen, daß es schwerlich in der Macht eines Sterblichen liegt, auch wenn er so gewaltig ist, wie der Fürst Bismarck, den jetzigen deutschen Reichstag – und mit ihm natürlich auch die Reichsregierung, die preußische Regierung und den Bundesrath, denn das Alles gehört ja zusammen – von Berlin zu verlegen, sei es, um ihm einen anderen Ort zum bleibenden Sitz anzuweisen, sei es, um ihn, wie dies vormals der Fall war, zum Wandern zu verurtheilen.

Einer der am meisten in die Augen springenden Unterschiede zwischen dem alten und dem gegenwärtigen Reichstag ist ähnlich dem zwischen einem seßhaften und einem im Umherziehen betriebenen Gewerbe. Mit anderen Worten: der jetzige Reichstag ist ein seßhaftes Parlament, der alte dagegen war nichts als eine Wanderversammlung. Der Letztere konnte an jeden beliebigen Ort im deutschen Reiche einberufen werden. Ja sogar auf fremdem Boden hat man ihn abgehalten, z. B. im Jahre 967 in Verona und im zwölften Jahrhundert auf den Roncalischen Feldern. Wo der Kaiser sich aufhielt, mochte es auch das kaiserliche Heerlager im Auslande sein, dahin folgte ihm auch der Reichstag. Später, als die Gewalt des Kaisers im Schwinden war und die der Territorialherren, namentlich die der Kurfürsten, immer mehr zunahm, war der Kaiser an die Zustimmung der Kurfürsten gebunden in Betreff der Fragen, ob, wann und wohin der Reichstag zu berufen sei. Im sechszehnten Jahrhundert aber, da Karl V. Kaiser war, wurde ausdrücklich vom Reichstage beschlossen, daß ein Reichstag nicht im Auslande abgehalten werden dürfe. Karl V. war zugleich auch König von Spanien, er hatte Besitzungen in Italien und in den Niederlanden, ja gar jenseits der Meere; und es schien der Verdacht vorzuliegen, daß er den deutschen Reichstag nach dem Ausland zu berufen die Absicht habe, um ihn dort fügsamer zu machen.

Im Uebrigen bestand überhaupt keine Beschränkung in der Auswahl des Ortes, mit Ausnahme einer Clausel zu Gunsten der freien Reichsstadt Nürnberg. Schon in der „Goldenen Bulle“ Kaiser Karl’s IV., die im Jahre 1356 auf den Reichstagen in Nürnberg und in Metz festgestellt wurde und von der ich später noch reden werde, heißt es wörtlich:

„Schon in den angesehnsten Berichten und Ueberlieferungen der Alten finden wir festgestellt, daß durch die, welche uns im Regiment glücklich voraufgegangen, von uralten Zeiten her, so daß sich Niemand einer gegentheiligen Uebung erinnert, stets daran festgehalten worden ist, daß der deutsche König und zukünftige römische Kaiser seinen ersten königlichen Tag (Prima regalis curia) in der Stadt Nürnberg abhalte, weßhalb auch Wir aus bewegenden Gründen uns für die Zukunft daran festgehalten wissen wollen, soweit nicht ein gesetzliches Hinderniß im Weg steht.“

Die Gelehrten stritten in einer Anzahl profunder und zum Theil sogar leidenschaftlicher Pamphlete zwar über die Frage, ob unter „Curia regalis“ ein wirklicher Reichstag zu verstehen, aber gleichwohl finden wir, daß Jahrhunderte lang an dieser Ueberlieferung festgehalten worden ist. Konnte einmal ausnahmsweise an dieser Regel nicht festgehalten werden, dann stellte der Kaiser der Stadt Nürnberg auf deren Verlangen einen Revers aus des Inhalts, daß diesmal aus bewegenden Gründen von der gedachten Regel habe abgewichen werden müssen, daß daraus jedoch der mehrgedachten getreuen Stadt keinerlei Nachtheil oder Präjudiz erwachsen sollen. Ich habe nirgends eine zuverlässige Nachricht über den Ursprung oder Grund dieses Vorzuges von Nürnberg finden können, ich vermuthe aber, die Ursache ist der von mir in meinen Aufsätzen über den Reichsadler und die Kaiserkrone in Nummer 14 und 15 der „Gartenlaube“ d. J. des Weiteren aus einander gesetzte Umstand, daß die im Eigenthum des Reichs und im Besitz und Gebrauche des jeweiligen Kaisers befindlichen Reichsinsignien und Krönungsgeräthe der Stadt Nürnberg zur Aufbewahrung anvertraut waren, – mit alleiniger Ausnahme des Kaiserschwertes, des Gladii Caroli Magni, das in Aachen aufbewahrt und jedesmal von dort requirirt, bei der Krönung aber dem Kaiser von dem Kurfürsten von Brandenbnrg, als des heiligen römischen Reiches Erzkämmerer, umgegürtet wurde, worauf der Kaiser den Thron bestieg, verschiedenen Herren mit diesem Schwerte den Ritterschlag ertheilte und dann sich nach althergebrachter Sitte zum Mitcanonicus des Aachener Stiftes aufnehmen ließ, wie dies Alles des Näheren zu lesen in dem über die letzte Krönung vom 14. Juli 1792 aufgenommenen „Protokoll des kurfürstlichen Wahl-Conventes zu Frankfurt am Main mit allen Beilagen nach dem Original“, Frankfurt 1792.

Der Umstand also, daß Nürnberg diese Insignien aufbewahrte und daß dieselben nicht nur bei der eigentlichen Krönung, sondern auch auf den Reichstage, besonders auf dem ersten, eine absonderliche Rolle spielten, mag wesentlich dazu mitgewirkt haben, daß der deutsche König oder römische Kaiser seinen ersten Reichstag, wenn nicht unübersteigliche Hindernisse vorlagen, allemal in Nürnberg abhalten mußte.

Sonst konnte der Kaiser – später der Kaiser in Uebereinstimmung mit den Kurfürsten – den Reichstag berufen, wohin er wollte; nur mußte, im Gegensatze zu dem heute üblichen Verfahren, bei welchem zuweilen nur acht Tage zwischen dem Tage der Einberufung und dem des Zusammentritts liegen, damals zwischen dem Einberufungs- und dem Zusammentrittstage ein Zwischenraum von wenigstens sechs Monaten eingehalten werden. Freilich waren damals der Telegraph, die Eisenbahn und das Dampfschiff noch nicht erfunden, für dieselben Strecken brauchte man damals wenigstes eben so viele Tage, als heute Stunden; kurz, das Reisen war ein mühsam und beschwerlich Ding und wurde dadurch noch umständlicher, daß bei vornehmen Herren ein großes Gefolge von Pferden und Menschen aus Standesrücksichten nicht entbehrt werden konnte.

Aus Zweckmäßigkeitsrücksichten wählte man für den jeweiligen Sitz des Reichstages regelmäßig größere und wohlhabendere Orte, „so weder der Behäbigkeit noch der Sicherheit ermangeln.“ Denn besondere Vorkehrungen gegen Ueberfall und Gewalt waren überall nöthig, und sicher schlief man nur hinter Graben und Mauern.

Gewöhnlich war es entweder ein opulenter Bischofssitz, oder die Stätte eines Kaiserpalastes, oder eine ansehnliche freie Reichsstadt, wo der Reichstag sein Zelt aufschlug. Ausnahmsweise finden wir den Reichstag auch in einer gewöhnliche Land- (im Gegensatze zu Reichs-) Stadt, z. B. 1497 in Freiburg.

Während der letzten drei Jahrhunderte des Bestehens des heiligen römischen Reichs deutscher Nation wird regelmäßiger Weise immer nur eine Reichsstadt zum Sitze des Reichstags auserkoren, besonders solche im Westen und Süden des Reiches.

Wenn auf einem Reichstag über den nächstfolgenden und die Zeit seines Zusammentrittes Beschluß gefaßt wurde, so wurde bei dieser Gelegenheit in der Regel auch in Betreff des Ortes „Abrede genommen“. Zuweilen auch gaben die Kurfürsten dem Kaiser Vollmacht, die Wahl des Ortes allein zu treffen. Seit dem sechzehnten Jahrhundert machte auch die Berücksichtigung der confessionellen Verhältnisse einige Schwierigkeiten. Man verlangte nämlich, daß nicht nur die Katholiken, wie früher, sondern auch die Protestanten an dem Sitze des Reichstages Gelegenheit hätten, ihren religiösen Uebungen obzuliegen, und zwar öffentlich. Die Katholiken und die Lutheraner wußten für sich dies durchzusetzen. Auf die Reformirten nahm man weniger Rücksicht; man gestattete ihnen nur, eigene Priester mitzubringen und durch dieselben in ihren Privatquartieren Gottesdienst abhalten zu lassen. In Frankfurt und in Regensburg war den Katholiken zwar der öffentliche Gottesdienst gestattet, nicht aber die Abhaltung von Processionen auf öffentlichen Straßen und Plätzen. Gleichwohl wurde an diesen Orten der Reichstag sehr häufig abgehalten.

In der Regel wurde der Reichstag an dem Orte, wo er abgehalten wurde, auch geschlossen. Ausnahmsweise aber kam

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 386. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_386.jpg&oldid=- (Version vom 4.6.2021)