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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

7.
Christel von Laßberg’s Tagebuch.

Am 7. November 1775 Abends. Um mich ist Alles still, aber in mir wogt es; die Gedanken drängen und pochen und möchten hinaus; ich sehne mich, an das Herz einer Mutter zu flüchten, der ich mein ganzes, volles Vertrauen geben könnte. Aber ich habe Niemanden so nah, so lieb, und die Gedanken müssen doch fort von meinem Herzen, das sie erdrücken. So will ich versuchen zu schreiben, was mich bewegt; Werther schrieb ja auch!

Da steht es, ich sehe es an; – ist denn eine Aehnlichkeit zwischen Werther und mir? Ich bin ein thörichtes Kind; mein Vater sagte mir es heute, als ich nach jenem Besuche nicht von der Brunnenstufe weichen wollte. – Welche Stunden süßer Träumerei! Ich hatte keinen größeren Wunsch als: Wolfgang Goethe kennen zu lernen! – O, wie mein Herz schlug, als die Hoffnung lebendige Gewißheit wurde! – Um Mittag liehen Kalbs von Tante Barbara silberne Löffel, und wir hörten, daß sie eine Gasterei hätten, daß sogar der Herzog bei ihnen esse. Vater wurde ärgerlich und sagte: wenn sie nicht einmal ausreichend Löffel besäßen, wäre es Unsinn und Uebermuth, einen Fürsten zu Tisch zu bitten. Ich schaute in Kalbs Garten; da kam plötzlich Gustchen in großem Putz gelaufen, und ihr folgte ein Mann. Das war „Er“, ich wußte es gleich! Er trug sich wie Werther; frei wallendes Haar und schlanke Glieder; war es Werther? Nein! Eher ein Götz, so männlich und stark, ein Götz im Wertherkleide; oder lieber ein König in geringer Tracht, den man meint schon mit Krone und Scepter im Goldmantel auf dem Thron gesehen zu haben. Gustchen hatte den Muth, ihn zu necken, mit ihm zu schäkern, fort zu laufen; es ist häßlich, wenn Gustchen läuft, und er beeilte sich vielleicht deshalb, sie einzuholen. Bald waren sie nahe unter meinem Fenster, bald hier, bald dort, zwischen den Bäumen mit goldnen und rothen Blättern. Sie kamen zu mir in die Laube, und da präsentirte Gustchen ihn mir mit vielen komischen, förmlichen Reden; er lachte dazu; aber als sie ihn pries und ihm viele hochtönende Titel gab, unterbrach er sie und sagte: „Welch’ üble Meinung geben Sie dem Fräulein von meiner Eigenliebe, wenn Sie ihr einreden, ich lasse mir all den Ruhm gefallen!“ – Dann wandte er sich zu mir und bat sehr artig um Vergebung, daß sie in unsern Garten eingedrungen wären.

Von Dem, was er sprach, weiß ich nicht viel mehr; ich fühlte seinen Flammenblick bis in mein verwirrtes, bebendes Herz hinein. Ich saß ihm fast zu Füßen und hätte ewig so sitzen mögen. Dann und wann, wenn er mit Auguste sprach, wagte ich es, ihn anzusehen; o, wie brannte sein Bild sich in meine Seele! Plötzlich ertönte aus Kalbs Garten ein Ruf. „Das ist der Herzog!“ sagte er und stand auf; sie grüßten mich, ich war schwindelnd wie im Traume, hätte ihn halten mögen und konnte weder ein Glied noch die Lippen bewegen; Gustchen schüttelte und küßte mich, „Kind, schlafe nicht ein!“ rief sie und sprang fort, dem Herrlichen nach. Ich aber saß da, bis Vater kam und mich ein thörichtes Ding nannte, weil ich am kalten Novemberabend am plätschernden Brunnen saß.

Am 8. November. Auch heute habe ich ihn gesehen; wieder war er mit Gustchen am Nachmittage im Garten; sie sang ein Lied und lachte dann überlaut; wie häßlich das klang! Ich nähte an meinem Kleide zum Balle und dachte, ob es möglich wäre, daß ich schön sei? Die Frage verfolgte mich peinlich; ich mußte mir Auskunft suchen. Als Barbara, wie es ihre Gewohnheit ist, mich auskleidete, fragte ich sie:

„Sage aufrichtig, Tante Barbara, bin ich schön oder häßlich?“

Sie blickte mich erstaunt an, nahm meinen Kopf in ihre lieben alten Hände, küßte mich auf Stirn und Mund und flüsterte:

„Schön wie ein Engel, mein Herzenskind!“

Ein Schauer der Freude überlief mich. – Schön wie ein Engel! – Warum soll ich mich nicht darüber freuen? Wird „Er“ mich häßlich finden? – Still, still! Der Ball kommt, und dann will ich versuchen, mit ihm zu plaudern wie Gustchen; nein! so wie sie kann ich nie sein!

Am 10. November Morgens. Heute ist der Tag! Heute! Ich kann nichts weiter sagen.

Mittags. Der Friseur ist eben dagewesen, mein Kopf ist fertig; aber wie schwer er ist, wie er schwankt! Der Puder stäubt umher, sowie ich mich bewege; ich müsse mich ruhig halten, sagte der Mann, sonst verderbe ich alles. Wie bleich ich aussehe! Tante wollte mir Schminke auflegen, aber ich litt es nicht; das Schminken ist eine Lüge, und damit gehe ich nicht vor sein Auge. Gustchen war derselben Meinung; sie freilich ist roth genug!

Nachts. Da bin ich wieder! Gottlob! Es ist vorbei! Für immer! Ich gehöre nicht unter die Menschen, ich bin verloren, hülflos, allein, wie ein Tropfen im Meere. – O, die elende, unbehülfliche Scheu! Ich habe mich meines Daseins geschämt und mich gesehnt, weit, weit weg zu sein. Und dann wieder das Glück, ihn ungehindert aus verborgener Ecke zu sehen, zu bewundern! Wie er stürmt und fliegt im Tanze, wie fest er den Arm um die Tänzerin schlingt, wie sein Auge leuchtet und seine Brust sich hebt in der Lust des Lebens und der Freude; o, wer so mit ihm genießen könnte!

Die Herzoginnen redeten mich gütig an, aber ich wußte nichts zu entgegnen; er stand in der Nähe, und ich wagte nicht, das Auge aufzuschlagen. So ließen sie mich stehen, und ich ging mit Tante Barbara in einen Winkel. Ich sollte tanzen, aber mein Vater hat vergessen, mich es lehren zu lassen, so konnte ich es nicht. Gustchen lachte, und mein Vater brummte in den Bart, nur Barbara nahm sich meiner an.

Rasch gingen die Stunden vorüber; ich sah nur ihn, ich suchte ihn mir wieder und fand seine herrliche Gestalt bald unter der Menge. Es kam eine Lust des Schauens über mich, die mich ganz vergessen ließ, wo ich sei; wie ein Geist fühlte ich mich um ihn schweben, leicht, frei, ohne Bangigkeit. Da trat mein Vater mit gerunzelter Stirn auf mich zu, er war zornroth im Gesicht, und seine Augen funkelten; ich erschrak, denn ich wußte, was das bedeute.

„Mir scheint, Du bist hier überflüssig,“ stieß er hervor. „Man mag und will Dich nicht; der alte Laßberg braucht dergleichen nicht zweimal zu hören. Er geht, er geht mit Kind und Kegel, für immer; er hat ausgespielt, er ist weggeworfen!“

So redend zog er mich heftig durch den Saal dem Ausgange zu; Tante Barbara hielt sich mit gefalteten Händen neben mir; meine Kniee bebten vor Schreck, die Lichter tanzten vor meinen Augen, ich konnte nicht mehr, ich stand still und war zum Umsinken. Da stürmte und wirbelte ein lustiges Paar heran; ich fühlte einen Anstoß der Tänzer und lag plötzlich auf dem Boden. Meine Augen waren geschlossen, mein Körper war schlaff, aber ich konnte hören und begreifen, was um mich her vorging. Seine Stimme war es, die ich hörte, sein Arm war es, der mich hielt, ich fühlte, ich wußte das.

„Schade!“ sagte er. „Das arme Kind! Wie eine geknickte weiße Rose.“

Dann riß mein Vater mich an sich, der Tanzmeister rief: „fortfahren!“, die Musik begann kräftig auf’s Neue, und weiter rauschte das wilde Leben des Balles, aus dem ich verschwunden, für das ich verloren war. Mein Vater hatte mich hinausgetragen, er wartete keine Sänfte ab, sondern hieß mich mitgehen. Er schlug seinen Mantel um mich, legte den Arm um meine Schulter und führte mich so nach unserm Hause. Keines sprach, aber im Vater tobte der Zorn, das fühlte ich. Tante Barbara hat mich wie immer ausgekleidet; sie hat mich geküßt und zärtlich getröstet, dann ist sie fortgegangen, ich aber mußte mein belastetes Gemüth diesen Blättern anvertrauen.

Was wird es weiter geben? Daß ich nicht zur Herzogin komme, ist klar, ich fühle es selbst, daß ich nicht dazu passe; aber er, er! Werde ich ihn Wiedersehen? wo? wann? werde ich je den Muth finden, mit ihm zu sprechen? Ach, und ohne ihn wie öde, wie traurig ist das Leben! Ja er ist meine Sonne; alles Nacht, kalte schwarze Nacht ohne den Strahlenden, Herrlichen! Aber da dämmert schon der Tag; o, der graue, einsame Novembertag meines ganzen künftigen Lebens!

(Fortsetzung folgt.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 408. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_408.jpg&oldid=- (Version vom 10.10.2022)