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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 28.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Herrin von Arholt.
Novelle von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Beide Damen, Leni Eibenheim und Gräfin Resi Lorbach, blickten verwundert auf Raban, wie um sich zu vergewissern, ob er im Ernst rede – dann sagte Leni lachend:

„Wie kommen Sie darauf? Man giebt schon, denk’ ich, den Soldaten im Dienst nicht genug, wie wird man für die Invaliden sorgen können?“

Damit zog sie das fortgeschobene Modeheft wieder an sich.

„Wenn Sie wirklich,“ fiel Resi ein, „darüber etwas wissen wollen, müssen Sie Lorbach, meinen Mann, fragen – vielleicht kann er Ihnen Auskunft geben, vielleicht auch nicht!“

„Vielleicht auch nicht! Ich fürchte es fast. Ist es Ihnen nie aufgefallen, Gräfin, daß die Menschen, die zu essen haben, sich merkwürdig wenig um diejenigen kümmern, welche nicht zu essen haben?“

„Wenig?“ entgegnete Gräfin Resi. „Ah. – ich meine, man thut doch so viel.“

„Man! Wer? Wir?“

„Nun – man giebt ja auch. Aber da sind die Volksküchen, die Armenhäuser, tausend Anstalten ...“

„Tausend? Sagen wir hundert. Nun ja! Aber denken wir daran? Stehen wir ihnen bei in ihren Anstrengungen, thun wir namentlich etwas gegen die Noth und das Elend, das sich nicht an die Anstalten wendet, das in schamhaftem Ehrgeize sich verbirgt ...“

„Sie reden ja wie ein Socialist!“ sagte Gräfin Resi.

„Bin aber keiner. Ich verwundere mich nur!“

„Worüber?“

„Ueber die merkwürdig harte Haut, welche alle gesunden und wohlhabenden Menschen gegen den Kranken und Armen haben, gegen das Leiden in ihrer nächsten Nähe, auch gegen das der Thiere.“

„Zum Almosengeben fühlt sich doch Jeder verpflichtet.“

„Genügt das? Ich verwundere mich auch darüber, daß, wenn ein Volk es zu einem geordneten Staatswesen gebracht hat, seine erste Frage nicht die ist: wie richten wir’s nun ein, daß wir Alle zu leben haben und Keiner zu darben?“

„Welcher Philosoph Sie sind, Herr von Mureck!“ scherzte Gräfin Resi – „Sie müssen das durchaus meinem Manne auseinander setzen; vielleicht hält er eine seiner Reden im Reichstage darüber.“

„Schwerlich – aber ich will gehen, ihn nach der Versorgung der Invaliden in diesem Staate zu fragen.“

Er erhob sich und ging, mit dem Grafen Lorbach zu reden. Leni schaute ihm mit mißmuthigem, gelangweiltem Gesichte nach und unterdrückte einen Anfall von Gähnen – Gräfin Resi stand auf, um zu den älteren Damen am Kamine zu treten; die schöne Leni aber stützte das Haupt auf die blüthenweiße Hand mit den schmalen Fingern und gab sich, in tiefe Betrachtung versinkend, dem Zauber hin, den in ihrem Journal die Fülle der Gestalten in tausendfach gefältelten Roben, Volants, Schleifen und Schleppen auf sie übte, bis ein paar jüngere Herren, neben ihr Platz nehmend, sie der tiefen Gedankenarbeit entzogen.

Als Raban sich in ziemlich später Stunde – das donnernde Rollen der Equipagen, welches die Schlußstunde der Theater verkündet hatte, war längst verklungen – nach Hause begab, befand er sich in einer Stimmung, die mehr mattherziger als verzagender Natur genannt werden konnte. Er gestand sich zum ersten Male, daß er sich im Salon der Frau von Eibenheim gelangweilt habe, und daß die Anwesenheit der bewunderten Leni auch nicht vom geringsten Einfluß gewesen, dieses Gefühl der Langeweile, das seiner Natur etwas Fremdes war, nicht aufkommen zu lassen.

Was man gesprochen und geplaudert den langen Abend hindurch, war das mehr werth gewesen, als das Plätschern des Albrechtsbrunnens, an welchem er eben vorüberging? War nicht ein unendlich großer, der größte Theil dessen, was die Gelehrten des Salons vorbrachten, Kramen im Kleinsten und Unerheblichsten, eine Hamsterthätigkeit im Zusammenschleppen von Körnern, aus denen niemals ein Stück Brod, ein Quentchen Nahrung für das Menschengemüth zu gewinnen ist? Ueber die Invalidenverpflegung war auch der Reichstagsabgeordnete im Unklaren gewesen; sein Steckenpferd waren die römischen Grenzwälle in Obergermanien.

Und nun, was Leni anging – weshalb hatte der Zauber, den sie anfangs auf ihn geübt, hier, wo er sie in dem richtigen, zu ihr gehörenden Rahmen geschaut, mehr ab- als zugenommen? Er fühlte wohl, daß die Gesellschaft, die Leni umgab, ihm völlig fremd war, daß er sich in ihr nie heimisch fühlen würde. Dazu kamen außerdem andere Gründe, die er heute noch nicht klar erkennen konnte. Man war ihm mit einer rückhaltlosen, warmen, gemüthlichen Offenheit entgegengekommen – mit jener liebenswürdigen Natürlichkeit und Ungezwungenheit, welche die Wiener Sitten charakterisirt, die dem Norddeutschen auch den Verkehr beider Geschlechter mit einander von einer auffallenden Vertraulichkeit

erscheinen läßt. Raban aber war ein Norddeutscher. Und er

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 457. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_457.jpg&oldid=- (Version vom 14.7.2022)