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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Brausejahre.

Bilder aus Weimars Blüthezeit.0 Von A. v. d. Elbe.
(Fortsetzung.)

Abends war ein kleiner auserlesener Kreis bei der Herzogin Anna Amalie versammelt. Goethe wollte den von Lavater so warm empfohlenen Schweizer Christoph Kaufmann einführen, Lavater hatte diesen jungen Mann „Gottes Spürhund“ genannt und hinzugefügt: er sei ein Mensch, der nach seiner äußeren Ausrüstung und den Gesetzen der Physiognomik zu Folge Alles könne!

Der Herzog, Frau von Stein, Luise von Göchhausen, Wieland und Hildebrand von Einsiedel waren bereits zugegen. Man saß um einen Tisch, auf dem einige Wachskerzen brannten und verschiedene Bücher und Silhouetten umher lagen. Die Damen schürzten Filet oder strickten; Luise leitete daneben die einfache Bewirthung mit Wein, Brod und Fleisch, Kuchen, Aepfeln und Nüssen. Sie hatte soeben, bevor Goethe kam, noch erregt von ihrer Begegnung am Nachmittage beim Oheim, von der Abneigung gesprochen, die man in gewissen Kreisen gegen den Dichter hege. Die kleine gescheidte Person war keine milde Natur; sie lebte vielfach im Kampfe, und es fiel ihr nicht ein, die zu schonen, welche ihr feindlich gegenüber standen.

Der Herzog lachte laut auf. „Es ist der Neid,“ sagte er spöttisch, „der ekle Brodneid, der sich allerorten breit macht. Ob ich einen neuen Ankömmling in meinen Hundezwinger lasse oder meinen Schranzen einen Besseren vorziehe, es giebt das gleiche Gekläff; aber den Herrn fallen sie Beide nicht an. Sie zausen sich nur unter einander, und Der, über den sie jetzt herstürzen, ist den schäbigen Kerls gewachsen, das glaubt mir!“

Wieland, der in seiner schönen Wärme für Goethe jeglichen Angriff auf den Freund als persönliche Beleidigung nahm, nannte den Hofmarschall den schiefsten, allerschwächsten und der Natur mißlungensten Menschen, den es je gegeben.

„Nur immer radical vorwärts, mein tapferer Oberonsänger!“ lachte die Herzogin zufrieden. „Sie wissen, daß auch mir der Graf zuwider ist, denn er legte es darauf an, mir meinen Sohn zu entfremden.“

Ein warmer Blick mütterlicher Liebe traf den neben ihr sitzenden Karl August. Dieser ergriff ihre volle weiße Hand und küßte sie herzlich, dann sagte er:

„Das wird weder dem Görtz noch sonst Jemandem gelingen. Uebrigens ist der Hofmarschall mir doch mit einer gewissen Treue attachirt, wie so eine Art Hausspitz.“

Wieland schnitt ein Gesicht, sagte aber nichts, da in diesem Augenblicke Doctor Goethe mit seinem Gaste angemeldet wurde.

Aller Blicke, Aller Herzen öffneten sich ihm und flogen ihm entgegen!

„Da bringe ich den Empfohlenen,“ sagte er, seinen Begleiter dem Herzoge und der Herzogin vorstellend.

Es war der Unbekannte, welcher in Leipzig Corona aufgesucht hatte.

Christoph Kaufmann, anscheinend in den Zwanzigern, war ein blühender, kräftiger Mensch in Schweizertracht.

Herzog und Herzogin begrüßten freundlich die Gäste, man machte ihnen Platz am Tische, und sie setzten sich zu den Uebrigen.

Der Herzog begann den Ankömmling über Lavater zu fragen, und Kaufmann pries ihn in begeisterten Worten.

„Sie haben bei ihm die Grundsätze der Physiognomik studirt?“ fragte der Herzog.

„Er hat sie an mir studirt. Nach einer Normal- oder Idealform bilden sich alle Gesetze. Er hat dieselbe in mir verkörpert gefunden. Ich bin das ‚Urphänomen‘ und ausersehen, Jahrhunderte zu überdauern.“

Man sah sich erstaunt an. Die Göchhausen bot dem „Urphänomen“ mit Lachen ein Glas Wein.

„Ich danke Dir, Lichtkernchen,“ sagte er ernsthaft, „ich genieße nur Urstoffe, Wasser oder Milch.“

Kaufmann entwickelte seine Theorie vom menschlichen Lichtkernchen. Er schilderte, wie das körperliche Häusel von innen eingehe und zuletzt als dünner Beleg ein Feuerrad umfange. Wie aus diesem sich Fühlfäden nach rückwärts ausstreckten zu den lichtstarken Genossen der Vergangenheit, um mit denselben zu verkehren.

„Alle Wetter, das wäre!“ rief der Herzog halb spöttisch, halb neugierig angeregt. „Sind Sie denn solch ein Feuerrad mit gla­céledernem Ueberzuge, das mit anderen, äußerlich zu Grunde gegangenen starken Lichtleibern wieder in Verbindung treten kann? Oder zu Deutsch: bilden Sie sich ein, mit Verstorbenen communiciren zu können?“

Feierlich neigte der Fremde den schönen Kopf zur Bejahung.

„Ich hoffe,“ sagte er schwärmerisch bewegt, „bald so weit himmlisch umgebildet zu sein. Schon ein Jahrhundert arbeite ich daran.“

„Ein Jahrhundert!“ rief der Herzog staunend, „wie alt halten Sie sich denn?“

„Ich stand mit einem früheren Menschenalter in Verbindung und bin bestimmt, in einem späteren fortzuwirken!“

Alle sahen sich fragend, lächelnd, ungläubig an. Der Wundermann fuhr fort:

„Als Gottes Spürhund ziehe ich durch die Lande und suche reine, kindliche Menschen, die ich wittere mit meiner ihnen verwandten Kraft – durchsichtig wie Glas seid Ihr alle meinem Auge! – Den Reinen muß ich helfen, ihren Lichtkern in die Schwingungen des Feuerrades zu bringen und sie hierauf dem Meister zuführen.“

„Also verschiedene Grade giebt es in Ihrer seltsamen Wissenschaft?“

„Ja, verschiedene. Willst Du, o Fürst, den ersten Meister aller Zeiten in diesem Wissen kennen lernen?“

„Lavater?“ fragte die Herzogin gespannt und nahm diese Frage von aller Lippen.

„Nicht er! Er kann nur ahnend fühlen, wo ein Sturmbrand des Lichts im erdklebigen Stoff gefangen weilt. Nein, ein Höherer, ein ungebundenes Feuerrad geistigen Wirkens, vom aschirdnen Stoff knapp umschlossen, das alle Dimensionen durch glüht, er ist’s, den ich meine!“

„Und wer wäre das?“ fragte der Herzog gespannt.

„Meine Lippen dürfen seinen Namen nicht nennen! Frage das schönste Weib, welches Dir während dieses Jahres Rundgang begegnet – sie trägt als Stempel seiner Herrschaft eine schwarze Sammetschleife vor dem Busen – diese ist auserkoren zwischen Dir und ihm zu vermitteln.“

Des jungen Fürsten Augen blitzten.

„Der lichtreiche Unbekannte scheint nicht so gleichgültig gegen hübsche, erdklebige Schalen zu sein, wie man solchem Ueberwinder derselben zutrauen sollte!“ rief er scharf mit lautem Auflachen. „Ich gestehe, daß vorläufig solche ‚Schalen‘ mir sehr wohl gefallen, mögen sie nun von innen heraus, in Ihrem Sinne, mein Prophet, dünn oder dick sein.“

„Du täuschest Dich selbst,“ erwiderte Kaufmann. „Kannst Du ein Auge schön finden, aus dem Dir keine verständnißreiche Seele als Lichstern entgegen strahlt? Denk die schönste Form von innen verdunkelt, geistig umnachtet, und Dich schaudert, ihrer Reize froh zu werden.“

Der Herzog verstummte sinnend; es lag Wahres in dieser Behauptung des Fremden.

Hildebrand Einsiedel knüpfte eine Frage nach der schönen Leibeignen des Lichtfürsten an, bei der Goethe verständnißvoll vor sich hinlächelte. Kaufmann aber brach auf, ungezwungen wie bisher nur nach seinem Belieben handelnd, und überhörte weitere Anreden. Er sagte, er dürfe einem einzelnen Thun nicht mehr Zeit und Kraft gönnen; wichtige Arbeiten warteten ihrer Erledigung.

„Nun, Sie werden doch heute Abend nicht viel mehr thun, wir haben halbzehn Uhr,“ sagte die Herzogin mit einem Blick auf ihre Rococopendule.

„Ich schlafe nie, hohe Frau,“ entgegnete der wunderliche Mann. „Wer dem Lichtkern zum Wachsthum verhelfen will, darf der grobfaserigen Masse keine Herrschaft einräumen.“

„Entsetzlich!“ rief Amalie und schlug staunend die Hände zusammen. „Sie schlafen nicht, Sie Aermster, da müssen Sie ja krank werden.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 483. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_483.jpg&oldid=- (Version vom 12.3.2024)