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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Dem Zeichner fiel sein voriges Gelüst nach einem Glase Milch ein, er stand rasch auf und befand sich neben dem Mädchen, bevor es noch mit dem Kinde die Hausthür erreicht hatte. Als sich die beiden Blondköpfe nach ihm umwandten, ward er überrascht von der wunderbaren Schönheit des älteren. Er glaubte nie ein so frisches, idealschönes Angesicht gesehen zu haben. Aus großen blauen Augen schaute sie ihn fragend an.

Er sagte, daß er als Zeichner komme, drüben am Waldesrande sein Geräth habe und um eine Erquickung bitte. Sie hieß ihn sich auf die Bank setzen, sie wolle nur die kleine Schwester hineintragen, dann bringe sie ihm, was er wünsche.

Einige Minuten saß er allein auf der rohgezimmerten Bank, unter den duftenden Goldlackstöcken, die im Fensterbrette standen. Der Hund legte zutraulich die kalte Schnauze auf sein Knie und ließ sich den Kopf krauen.

Bald kam das Mädchen mit Brod und Schinken, sie hielt einen Krug in der Hand und eilte zum Stalle, um frische Milch zu holen; behende war sie auch damit zurück. Sie nahm die Kleine auf den Schooß, setzte sich zum Gaste, nöthigte ihn zuzugreifen und plauderte mit ihm und dem Kinde.

„Mein Lenchen rannte mir weg,“ sagte sie. „Gelt, Schatzel, wolltest dem Vater nach? Aber durch den wilden Wald, wo die großen Hirsche sind, kann klein Lenchen noch nicht laufen!“

„Ihr Vater ist hier der Förster?“ fragte Goethe, „er mußte wohl des Herzogs Treibjagd mitmachen, und so sind Sie allein geblieben?“

Das Mädchen bejahte; es erzählte von seinen Geschwistern, die alle schon auswärts wären, daß ihre Mutter vor einem Jahre gestorben sei und daß sie nun das Kleinste groß zu ziehen habe; dabei herzte sie das Kind, und man sah, es war ihr keine schwere Pflicht.

Goethe fand, daß er von hier auf den Wald, der vor ihm empor stieg, auf die Fernsicht zur Seite und ein Stück vom Felsen einen höchst malerischen Blick habe und seine Zeichnung viel bequemer auf dem Tische vor der Försterei anfertigen könne, als drüben unter den Bäumen, mit der Mappe auf den Knieen.

Als er diese Meinung aussprach, freute sich seine junge Wirthin sichtlich und rief: sie habe sich immer gewünscht, zu sehen, wie ein Bild gemacht werde.

Das Kind spielte, während er jetzt zeichnete, zu seinen Füßen mit dem Hunde, und Gretchen, das ältere Mädchen, kam und ging, sah dem Zeichner über die Schulter, staunte seine Geschicklichkeit an und plauderte dabei voll Natürlichkeit und Anmuth.

Goethe betrachtete mit echter Künstlerfreude ihre tadellose Schönheit; ihr mattblondes Haar hing in zwei dicken Zöpfen lang über den Rücken herunter, die weichen, regelmäßigen Züge konnten nicht lieblicher sein. Endlich bat er sie, sich ihm gegenüber zu setzen, er wolle sie zeichnen. Sie hatte nichts dagegen, sie müsse nur erst ihre Kuh füttern; darauf nahm sie ihren Strickstrumpf und setzte sich nach seiner Angabe.

Als sie dann des Weiteren hin und her redeten, erzählte sie ihm, daß sie siebenzehn Jahre alt, und – mit hellem Erröthen fügte sie hinzu, daß sie einem jungen Chirurgen unten in Ilmenau verlobt sei; sie könne aber den Vater noch nicht verlassen, und ihr Bräutigam habe auch noch keine sichere Brodstelle, deshalb dürfe an Heirath noch nicht gedacht werden.

„Ja,“ sagte sie überlegend, „wenn der Herzog den Johann späterhin fest anstellen wollte, könnte mein Vater – in ein paar Jahren vielleicht mit einer guten Magd oder einer Tante von uns fertig werden, allzu bald verlasse ich ihn und mein Lenchen aber nicht.“

Als sie so erzählte und sich dabei einmal zur Seite wandte, rief sie plötzlich: „Ach, der Hansel!“ und eilte in’s Haus.

Goethe war überrascht ihrem Blicke gefolgt; er sah einen Capitalhirsch, vorsichtig äugend, drüben aus dem Walde auf die Wiese treten. Das stolze Thier hob und senkte langsam den Kopf mit dem mächtigen Geweihe, das wie eine hohe, vielzackige Krone über der Stirn aufragte. Dann schritt es sicher und vornehm langsam, hier und da wieder Umschau haltend, unter den breitästigen Buchen hervor.

Gretchet trat mit einigen Kastanien in der Schürze aus dem Hause, rief dem Hunde ein „Kusch!“ zu und ging dem Ankömmling entgegen. Der Hirsch blieb mit stolz gehobenem Kopfe, bereit zu fliehen, aber noch vertrauend, auf seinem Flecke stehen.

Das Mädchen hielt die Schürze auf und rief das schöne Thier mit Schmeichelnamen. Es folgte langsam, äugend, dann aber ruhig aus der Schürze fressend, wobei seine Freundin ihm die Backe klopfte. Als die Kastanien verzehrt waren, kam sie zurück, während der Hirsch im Walde verschwand.

Mit Vergnügen hatte der Dichter den Vorfall beobachtet. Gretchen erzählte ihm, indem sie mit heiterem Lachen ihre schweren Zöpfe zurückwarf: ihr schöner Hansel komme schon seit langer Zeit fast täglich. Zuerst habe sie ihm sein Lieblingsfutter auf die Wiese geworfen, jetzt nehme er’s zutraulich aus ihren Händen. Sie habe nur eine große Angst, daß der Herzog einmal hier im Reviere jagen werde und daß dann der prächtige Gesell daran glauben müsse.

Während sie noch hin und her plauderten, kam der Förster nach Hause. Er berichtete von der beendeten Jagd, und Goethe sah jetzt, daß die Sonne niedrig stand.

Als Förster Slevoigt erfuhr, daß der Gast zu des Herzogs Gefolge gehöre, erbot er sich, ihm die kürzesten Fußpfade zu weisen, auf denen er von hier aus zum Gickelhahn gelangen könne, und meinte, daß er quer durch den Wald, bei rüstigem Zuschreiten, in einer Stunde dort sein werde.

Goethe brach auf und reichte mit herzlichem Danke Gretchen die Hand. Er wurde vom Vater eine Strecke Wegs begleitet und mit Jagdgeschichten unterhalten, auf die er nur zerstreut lauschte. Das schöne Mädchen und das Idyll dieses Tages erfüllten seine Gedanken!

Nachdem er sich von dem gefälligen Führer verabschiedet hatte und Ruhe fand, die empfangenen Eindrücke zu verarbeiten, festigte sich in ihm der Entschluß, die Försterei nie wieder aufzusuchen, auch den anderen Männern nichts von Gretchen Slevoigt zu sagen; sie war von einer zu wunderbaren Schönheit! Besonders wünschte er sie vor dem Herzoge zu hüten. Gretchen hatte schon ihren Weg gewählt; mochte sie still wie eine Wunderblume auf der grünen, von keinem fremden Fuße entweihten Waldwiese weiter blühen, bis ihr Geliebter sie schützend an sein Herz nahm! Leise sang er vor sich hin:

„Im Walde sah ich ein Blümlein stehn,
Wie Sterne leuchtend die Aeuglein schön,
Ich wollt’ es brechen, da sagt es fein:
‚Soll ich zum Welken gebrochen sein?‘“

(Fortsetzung folgt.)

Die „Schwarze Hand“.

Vor wenigen Wochen haben in Jerez de la Frontera in Andalusien sieben Individuen mit ihrem Tode ein Verbrechen gebüßt, das am 4. December 1882 in der nächsten Nähe jenes berühmten Weinortes begangen worden war und das mit der berüchtigten socialistischen Gesellschaft der „Schwarzen Hand“ in Beziehung gebracht wurde. Dieser Zusammenhang ist zwar nicht mit absoluter Sicherheit erwiesen, man hat sich jedoch so daran gewöhnt, jenes furchtbare Verbrechen als eines der „Schwarzen Hand“ zu betrachten, daß desselben gar nicht mehr anders als im Verein mit dem Namen dieser mysteriösen Genossenschaft Erwähnung geschieht. So bin ich denn auch gezwungen, auf den Mord des Blanco de Benaocaz einzugehen, ehe ich über die „Schwarze Hand“, die Ursachen ihrer Existenz und ihre Organisation spreche, so weit sich überhaupt Bestimmtes darüber mittheilen läßt und so weit die Processe gegen die Urheber des bezeichneten Verbrechens Licht darüber verbreitet haben.

Bartolomé Gago Campos, genannt el Blanco de Benaocaz, ein junger Feldarbeiter, Anfang der Zwanziger, der bei den Gebrüdern Corbacho im Dienst stand und an einen derselben eine Forderung von etwa 265 Peseten (Francs) hatte, beabsichtigte, sich den 5. December 1882 aus der Gegend von Jerez fortzubegeben und anderswo Arbeit zu suchen. Seit dem 5. December war er denn auch verschwunden, ohne daß seine Eltern wußten, wohin er sich gewandt hatte. Endlich erhielten sie einen vom 8. Januar aus Barcelona datirten Brief, scheinbar von Blanco geschrieben, worin dieser mittheilte, daß er in seine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 512. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_514.jpg&oldid=- (Version vom 11.3.2024)