Seite:Die Gartenlaube (1884) 548.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

auch die Dorfstraße hinauf sehen konnten, an der Gehöfte zerstreut im Grünen unter Bäumen und Büschen lagen.

Auf der Dorfstraße kam ein bestaubter Reisewagen durch ausgefahrene Geleise daher geschwankt; ein Frauenkopf neigte sich heraus; zwar war die Entfernung noch zu groß, um Gesichtszüge zu unterscheiden, er schien aber jung und anmuthig:

„Komm, Hildebrand, die schöne Reisende müssen wir begrüßen!“ rief Goethe; derbe Lebenslust kam über ihn, mit einem Satze sprang er von oben über die Hecke auf den Pachthof, riß von dem festlich geputzten Erntewagen, was er an Blumenguirlanden fassen konnten und rannte über den Hof zum Thor hinaus auf die Landstraße. Einsiedel that ihm alles nach.

Da standen nun die idyllisch geschmückten schönen Jünglinge, die Arme voll Blumen, mit lang nachschleppenden Gewinden, und warteten tief athmend, bis der Wagen herankam.

„Laß uns sie ansingen,“ flüsterte Goethe dem Gefährten zu und stimmte sein Lied vom Haideröslein an, Einsiedel sang mit:

„Sah ein Knab’ ein Röslein stehn,
Röslein auf der Haiden.
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell, es nah zu sehn,
Sah’s mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Haiden!“

Indem sie laut jauchzend die letzten Reihen wiederholten, stürmten sie den müden Pferden entgegen, die verdutzt stehen blieben. Die jungen Männer warfen ihre Blumengewinde in und über den Wagen und schauten hinein.

Zwei halb erschrockene, lächelnde Mädchengesichter tauchten hinter dem Ledervorhang auf. Es war Corona mit ihrer Freundin, der blonden Gärtnerstochter, die aus Leipzig kamen und nach Weimar übersiedelten.

Goethe’s Wiedersehensfreude in diesem Augenblicke begeisterter Stimmung war hinreißend feurig; er küßte wiederholt der schönen Sängerin die Hand und bat sie, auszusteigen und an dem Fest theilzunehmen; daß sie willkommen sei, wolle, er verbürgen.

Er hatte aber nicht mit der weiblichen Eitelkeit gerechnet, die in diesem Falle das Schicklichere traf. Corona erklärte, daß es unmöglich sei, in ihren bestaubten Reisekleidern vor dem festlich geputzten Hofkreise zu erscheinen.

„Nun, dann geleiten wir Sie ein Stück Weges!“ rief Goethe entschlossen. Er hatte des Gefährten nicht geachtet; ein fragender Blick Corona’s zur Seite belehrte ihn über sein Versäumniß. Sogleich bat er die Unachtsamkeit zu verzeihen und stellte den Hofrath und Kammerherrn von Einsiedel vor.

Beide sahen sich sekundenlang groß an; es spiegelte sich der Eindruck, den sie auf einander machten, in ihren leuchtenden Blicken.

„Sie sind uns ein hochwillkommener Gewinn, schöne Künstlerin!“ rief der junge Hofmann begeistert. „Möchte Ihr Sein in unserem Kreise diesem festlich sonnigen Tage gleichen, an dem uns das Glück zu Theil wird, Sie zu empfangen!“

„Sie fallen aus der Rolle, mein dörflicher Galan!“ erwiderte Corona lächelnd, „oder sind in diesem glücklichen Landstriche Alle, bis auf Fischer und Bauern herab, poetisch gebildete Leute?“

Bevor man ihr antworten konnte, trat grüßend ein Lakai heran und meldete: er sei von der Herzogin ausgesandt, die beiden Herren zu suchen; man erwarte sie an der Abendtafel.

Nur ungern trennten sich die jungen Männer von der schönen Reisenden. Mit einem allseitigen: auf baldiges Wiedersehen in Weimar! schied man von einander.

„Corona ist da!“ rief Goethe dem Herzoge zu, ein Wort, das mit verheißungsvollem Klange an den Tafeln wiedertönte. Hildebrand von Einsiedel aber setzte sich still an seinen Platz, er war sehr zerstreut und wortkarg gegen seine Nachbarinnen.

Der Abend brach endlich herein; Windlichter und bunte Lämpchen im Parke halfen der Mondsichel ein magisches Halblicht verbreiten. Man erhob sich, noch ein Tänzchen ward versucht, dann aber drängten die älteren Personen zum Aufbruche; die Wagen fuhren vor, mancher Händedruck wurde gewechselt, hier und da ein verstohlener Kuß im Bosquetschatten – und das schöne fröhliche Fest war zu Ende.

Den fortrollenden Wagen nachsehend, standen die Hausgenossen und Gäste, welche hier Quartier bekommen hatten, vor der Hausthür.

„Komm, Thusnelda, ich bin todtmüde,“ sagte die Herzogin zu ihrer Getreuen, „wir wollen uns zur Ruhe begeben.“

Das Hoffräulein schickte sich an, mit einigen ihrer drolligen Knixe und: „Gute Nacht! Gute Nacht!“ rufend, der Gebieterin zu folgen.

„Seien Sie nicht grausam, Tuselchen,“ sagte der Herzog bittend, „uns schon jetzt zu verlassen; gehen Sie noch einmal mit durch den Park, ich kann noch nicht in’s heiße Bett; lassen Sie uns noch plaudern, kritisiren, dumme Schnäcke machen. Wer versteht das besser als Sie? Um unsere Tugend nicht in Gefahr zu bringen, soll Freund Wolf uns begleiten. Gelt, wir geben ein lustiges Kleeblatt?“

„Bist Du nicht allzu müde, so thue ihm den Willen,“ sagte die Herzogin gütig. „Aber höre, poltere nicht in Deiner Kammer, wenn Du herein kommst, ich muß Ruhe haben!“

Die Göchhausen war bereit, des Herzogs Wunsch zu erfüllen; sie verabschiedete sich von ihrer Gebieterin; die anderen Hausgäste zogen sich in ihre Zimmer zurück, und das kleine Hoffräulein wanderte lachend am Arme des jungen Fürsten, Goethe auf ihrer andern Seite, in den Park hinaus.

Man löschte eben eine der bunten Lampen nach der andern aus, die Dienerschaft räumte die Tische fort und verschwand auf dem Wirthschaftshofe. Die lustigen Drei tauschten in unerschöpflicher Laune kernigen Blödsinn gegen einander aus, untermischt mit treffenden Witzen, und das Wortgefecht, das Necken und Scherzen wollte kein Ende nehmen. Endlich standen sie wieder vor der offenen Hausthür und traten ein, die Letzten, welche noch wach waren. Zwei Wachskerzen brannten auf einem Seitentische. Der Herzog überreichte mit einem zierlichen Complimente seiner Dame die eine und Goethen die andere. Dann sagte er mit ironischer Betonung:

„Wir wünschen dem süßen Fräulein, das wir morgen noch als ‚Kükenlise‘ sehen werden, eine entzückende Nacht!“

„Die Kükenlise verschwindet mit Hans und Peter, den Großknechten, denen ich gleichfalls gute Nacht wünsche!“ entgegnete das junge Mädchen, die Treppe hinauf steigend.

„Sie verschwindet nicht!“ lachte der Herzog, „und macht morgen früh, in selbiger Gestalt, mit uns ein Tänzchen auf dem Rasen!“ Er reckte sich dabei, blies das Licht der Göchhausen aus und folgte rasch dem voran gegangenen Freunde.

„Ich werde auch so meine Kammer finden!“ rief sie ihm nach. Ein schallendes Gelächter und das Geräusch des Zuschließens der Thür folgte.

Auf die Treppe fiel ein schwacher Mondstrahl; die Göchhausen stieg guten Muthes hinauf und bog leise, um die Herrin nicht zu stören, in den jetzt ganz finsteren Gang, an dem ihr Zimmer lag.

Sie fuhr mit den Händen an der Wand hin, um tastend ihre Thür zu finden – aber da, wo ihre Thür ganz sicher sein mußte, wo sie immer gewesen – war alles glatt, kein Holz, kein Schloß, kahle ebene Wand!

Es überlief sie kalt, wie bei einem Spuk. Wo war ihre Kammerthür geblieben? Sie tastete noch einmal – vergebens! Sie kehrte zur Treppe zurück, um sich in dem matten Lichtschimmer zu erholen, sich zu besinnen, gewann die Ueberzeugung, daß sie verkehrt gegangen sei, sich geirrt habe, und ging nochmals zurück, um auf’s Neue zu suchen und ebenso vergeblich umher zu tasten. Jetzt ward ihr klar, daß ihr so oder so ein Streich gespielt worden, daß die Artigkeit der jungen Männer eine List gewesen sei, daß man sie in eine Falle gelockt habe. Sie entschloß sich also, in einem Lehnstuhle oder auf einem Sopha der Gesellschaftszimmer zu übernachten, suchte die Thüren, fand sie aber sämmtlich abgeschlossen.

Was blieb ihr übrig? Es war Niemand im Hause, den sie wecken oder belästigen mochte; fröstelnd und müde setzte sie sich auf die oberste Treppenstufe. Pläne, sich an den beiden Schelmen zu rächen, besonders dem Herzoge über kurz oder lang einen Possen zu spielen, stiegen in ihr auf, dazwischen nickte sie öfter ein, raffte sich wieder zusammen, um nicht hinunter zu fallen, und erwartete mit Sehnsucht den ersten Tagesschimmer.

Als sie dann in dem Gange, der nach ihrer Kammer führte, etwas erkennen konnte, machte sie sich auf, den geheimnißvollen Grund ihres Ausgeschlossenseins zu erkunden.

Siehe da – ihre Thür war zugemauert!

(Fortsetzung folgt.)

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 548. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_548.jpg&oldid=- (Version vom 11.3.2024)