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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Sitten mildere und die Herzen veredele. Ueberdies ist anzunehmen, daß die Technik des Instrumentenbaues, die so riesige Fortschritte in der Verstärkung des Tones aufweist, auch noch Fortschritte in der beliebigen Abschwächung desselben machen kann und wird. Die erste Erfindung dieser Art ist mir 1862 in der Londoner Weltausstellung aufgefallen: eine gewöhnliche Militärtrommel, „Practice silent drum“ (stille Uebungstrommel) genannt, welche mittelst beliebiger Abspannung des Felles es ermöglichte, daß ein halb Dutzend Tambours sich in ihrer Kunst üben konnten, ohne die Nachbarschaft im Mindesten zu belästigen. Dieselbe Idee, auf das Clavier übertragen, tritt mir so eben in einer Annonce des Hamburger Pianofortefabrikanten E. Dührkopp entgegen; sein neu erfundener „Ton-Moderateur“ setzt den Spieler in den Stand, den Ton jedes Claviers beliebig abzudämpfen, „auf Wunsch bis zur Tonlosigkeit“. Ich weiß nicht, ob die neue Erfindung, die mir nicht zu Gesicht gekommen, ihren Zweck erreicht; die Idee selbst ist gut und ermöglicht wenigstens einen Schritt zum Besseren: daß man leise spielen kann.

Wer aber darf dem Nachbar befehlen, daß er leise spielen muß? Wer zwingt uns zum „Ton-Moderateur“? Die Macht eines Regiments-Commandanten, welcher seinen Tambours die „stille Uebungstrommel“ umhängt, sie erstreckt sich nicht über unsere claviertrommelnden Civilisten.

Die Klage über Belästigung durch nachbarlichen Clavierlärm ist keineswegs so alt, wie das Clavier selbst. Dieses war zur Zeit Haydn’s und Mozart’s ein schwächlicher, dünner Kasten mit zartem Ton, kaum bis in’s Vorzimmer hörbar. Die Klage entstand erst nach und nach mit dem immer stärker werdenden Ton und größeren Umfang des Pianofortes; sie ist zum Wehgeschrei, die Belästigung zur Landplage geworden seit den 30 bis 40 Jahren, da alles Streben der Clavierfabrikanten dahin zielte und noch immer dahin zielt, die Schallkraft dieses Instruments zu verstärken. Vor 100 Jahren war das Clavier nicht viel mehr als ein vergrößertes Hackbret (Cymbel), heute ist es ein verkleinertes Orchester. Der Klangfülle und schleudernden Kraft der heutigen Pianoforte entspricht der gewaltige Umfang und das durch die starke Eisen- und Metallarmatur bedingte colossale Gewicht derselben. Wie anders vor hundert Jahren! Der berühmte Wiener Clavierfabrikant J. B. Streicher hat mir oft erzählt, daß sein Großvater mütterlicherseits, Andreas Stein, als junger Mann sein Clavier oft stundenweit unter dem Arme getragen, wenn er in den benachbarten Ortschaften Sonntags zum Tanz aufspielen sollte. Und von Georg Benda, dem einst hochbeliebten Gothaer Operncomponisten, weiß man, daß er einmal spät Abends eigenhändig sein Clavier über die Straße trug, um seinem bereits zu Bette liegenden Textdichter eine eben componirte Arie in unabgekühlter Begeisterung vorzuspielen. Damals gab es Claviere genug, aber noch keine „Clavierseuche“. Erst in unseren Tagen gewann dieses Instrument offensive Kraft und leider auch offensiven Charakter. Mit dieser Qualität steigert sich auch fortwährend die Quantität der Clavierfabrikation; kaum giebt es in den Großstädten ein Haus, in welchem nicht ein bis zwei Pianos, auch mehr, zu finden wären.

Nothgedrungen sind wir bei dem wenig tröstlichen Resultate angelangt, daß die „Clavierseuche“ durch äußere Maßregeln nicht zu heilen oder zu vertreiben ist, daß wir vielmehr gut thun, sie wie manches andere unabwendbare Uebel unserer Civilisation mit möglichster Resignation zu tragen.

Nur mittelbar, so bemerkte ich gleich Eingangs, wird eine allmähliche Besserung dieser Zustände sich anbahnen lassen, nur mittelbar und auf weitem Umwege. Er besteht darin, daß wir in den heranwachsenden Generationen weniger Clavierspieler aufkommen lassen. Diejenigen, die heute bereits Clavier spielen – worunter wohl fünfzig Stümper auf Einen Künstler kommen – vermögen wir am Ausüben ihrer Fertigkeit nicht zu hindern; wir können aber – Jeder in seinem Kreise – dahin wirken, daß künftig nicht mehr so Viele Clavier spielen lernen. Nur dann wird weniger und wird besser gespielt werden. Es ist dies, meine ich, eine wichtige Angelegenheit, von einer weit über das Musikalische hinausreichenden Tragweite. Daß der Cultus der Musik, insbesondere des Clavierspiels, heutzutage übertrieben wird, auf Kosten höherer und dringenderer Interessen, gehört zu den nicht mehr bestrittenen Wahrheiten. Der pädagogische Werth des Musikunterrichts, den ich gewiß nicht verkenne, wird heute ohne Frage überschätzt und einseitig im Technischen gesucht. Jedes Kind zum Clavierlernen zu zwingen, es stundenlang an’s Piano zu schmieden, gleichviel ob es Lust und Talent dazu hat, ist ein Unsinn, eine Versündigung. Der unverhältnißmäßige Zeitaufwand, den unsere Jugend dem Clavierspiele opfert, wird zum Raube an der ernsteren wissenschaftlichen Ausbildung.

Wir sehen den Unterricht im Zeichnen auffallend vernachlässigt gegen das Musiciren, und in diesem wieder den Gesang vernachlässigt durch das Alles verdrängende Clavierspiel. Was Jeder lernen und können soll, ist: in einem Chor mitzusingen. Wie spärlich wird gerade dafür bei uns gesorgt![1] Ein hochgeachteter französischer Autor, Mr. de Laprade, macht in einer gegen das Ueberwuchern der Musik in Frankreich gerichteten Schrift unter Anderem folgende gute Bemerkung: „Die Opfer des Claviers sind nicht blos die Zuhörer der klimpernden Schüler, sondern diese Schüler selbst, vor Allem die zahllosen jungen Mädchen, welche ihre Nerven abnützen und so viel kostbare Zeit verlieren, um doch so selten gute Pianistinnen zu werden.“ Wie schön, wie werthvoll ist es, eine gute Pianistin in der Familie zu besitzen! Aber dieser glückliche Phönix findet sich äußerst selten. Möchte doch die Statistik folgende Aufgabe lösen: wie viele Millionen Stunden werden jetzt auf das Clavierspiel verwendet und wie viele Stunden wahrer, genußreicher Musik bringen sie zuwege? In der That, diese Menge dem Clavier gewidmeter Stunden sollte nur durch eine entschiedene, gebieterische Begabung gerechtfertigt werden.

Ist das Ueberhandnehmen des dilettantischen Clavierspiels, das obligate Zwangspiano in den Familien zu beklagen, so zeigt sich heute noch bedenklicher die maßlose, anschwellende Concurrenz der Pianisten von Fach, welche als Virtuosen oder als Lehrer das Clavierspiel zu ihrem Lebensberufe erwählen. Davon sollte allerorten so dringend als möglich abgemahnt werden. In erster Linie, glaube ich, wären die Conservatorien verpflichtet, dem Andrange von Clavierschülern entgegenzuwirken, aber gerade sie befördern im Gegentheil die massenhafte Drillung von Pianisten und dadurch das Anwachsen eines bedauernswerten musikalischen Proletariats. Die Musikconservatorien haben den Beruf, für die Ausbildung und den Nachwuchs von Orchestermusikern zu sorgen. Ehedem hielten sie auch fest an dieser Tendenz, gönnten dem Clavierspiele höchstens eine untergeordnete Stelle und überließen es in der Regel dem Privatunterrichte. Heute droht dieses Verhältniß sich umzukehren; die Zahl der Clavierschüler übersteigt in den meisten Conservatorien die der Geiger oder Bläser. Greifen wir die nächstbesten Jahresberichte des Wiener Conservatoriums heraus. Dasselbe war im Schuljahre 1875 besucht von 316 Clavierzöglingen, worunter 254 Mädchen; im Jahre 1876 von 448 Clavierschülern, worunter über 300 Mädchen; im Jahre 1880 hatte es an 400 zahlende Clavierschüler, davon 350 Mädchen! Als Beweis, daß dies nicht etwa so sein muß, oder allerwärts so ist, führe ich das Pariser Conservatorium an, das seine Aufgabe richtiger auffaßt. Im Jahre 1876 hatten sich daselbst 32 männliche und 160 weibliche Aspiranten zur Aufnahme in die Clavierclassen gemeldet; von Ersteren wurden nur sechs, von Letzteren nur elf angenommen. Im folgenden Jahre 1877 betrug die Zahl der für die Clavierclasse concurrirenden Herren 47, die der Damen 177; es fanden von jenen nur sieben, von diesen nur vierzehn die gewünschte Aufnahme. Das Pariser Conservatorium nimmt also in der Regel von hundert sich bewerbenden Pianisten kaum zehn auf; nur die allertalentvollsten, deren hervorragende Befähigung doch einige Gewähr leistet für ihre künstlerische Carriere. Das ist der richtige Standpunkt. Der absolvirte Geiger oder Bläser findet leicht sein festes Unterkommen bei einem der zahlreichen Theater-, Concert- oder Ballorchester; für den Pianisten existiren dergleichen sichere Asyle nicht. In

Wien hat nach je drei bis vier Jahren stets ein neuer Schwarm

  1. In diesem Punkte übertreffen wir allerdings weit die Franzosen, könnten aber Manches von den Engländern lernen. So hat die „Bristol Musical Festival Society“ in London (eine Privatgesellschaft, welche alle drei Jahre große Musikfeste veranstaltet) in verschiedenen Theilen der Stadt Singclassen etablirt, in welchen im letzten Winter z. B. 794 Zöglinge im Chorsingen und besonders im prima vista-Lesen ausgebildet wurden; von den Schülern passirten 260 die Prüfung mit Auszeichnung. Das Honorar für den Unterricht beträgt 25 Pfennig für die Stunde. Welchen vorteilhaften Einfluß eine derartige Pflege des Gesanges auf die Leistungsfähigkeit des Chors ausüben muß, ist unschwer einzusehen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 574. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_574.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)