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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

sowie einen geschulten Organisten, und plötzlich vernahm man an den Sonntagen Glockengeläute, Orgelklang und bekam eine thatsächlich gediegene Predigt zu hören. Der Baumeister hatte ein bedeutendes Capital riskirt, aber seine Berechnungen erwiesen sich als richtig. Der junge Geistliche fesselte zunächst die Besucher, bildete dann aus dem Kreise seiner Anhänger eine Gemeinde, die sich rasch vergrößerte, alsbald officiell constituirte und dem Erbauer die Kirche abkaufte, der sich selbstredend Gebäude wie innere Einrichtung gut bezahlen ließ, um wahrscheinlich in einem anderen westlichen Territorium das gleiche Geschäft noch einmal zu versuchen.

Aber auch in dem civilisirteren Osten experimentiren die Geistlichen mit den seltsamsten Mitteln, um sich einen zahlreichen Anhang und volle Kirchen zu sichern. Im Februar dieses Jahres führte mich mein Weg nach Syrakus, der großen Salzstadt unweit des Ontario-Sees. In der Hauptstraße, der North-Saline-Street, befinden sich drei Gotteshäuser in unmittelbarer Nähe beieinander. Jede der drei Gemeinden, welchen diese Kirchen gehören, ist bestrebt, die höchste Mitgliederzahl zu gewinnen. Um dieses Ziel zu erreichen, verfährt man nicht gerade sehr wählerisch. Einer der drei Geistlichen schlug aber doch dadurch die „Concurrenz“ aus dem Felde, daß er eines Tages den Rabbiner in Syrakus bewog, in der christlichen Kirche eine Predigt über die Person Jesu Christi zu halten, während der Geistliche in der Synagoge über dasselbe Thema vom protestantischen Standpunkte aus predigte. Das ist eben nur in Amerika möglich, aber der Vorfall machte seiner Originalität halber gerechtes Aufsehen weit über den Platz Syrakus hinaus und trug den Namen des geistlichen Arrangeurs durch das ganze Land.

Fast mehr noch als Sänger und Künstler sind die amerikanischen Geistlichen von der Gunst und dem Wohlwollen der Presse abhängig. Nimmt man an einem Montage früh in New-York den „Herald“ oder in Philadelphia den „Public Ledger“ zur Hand, so sind ganze Spalten dieser hervorragendsten Organe der Tagespresse mit Recensionen über die Sonntags stattgehabten Predigten angefüllt, eine durch ganz Amerika verbreitete Sitte, die in vielen deutschen Kreisen nicht sonderlich sympathisch berühren dürfte, an der aber der Yankee nicht das Geringste auszusetzen findet. Das Amt eines Geistlichen ist eben in Amerika ein Geschäft wie jedes andere, und ein sogenannter geistlicher Stand, wie hier bei uns, ist schon der zahlreichen Secten wegen unbekannt. Heute Lehrer oder Redacteur, das nächste Jahr Kaufmann, fünf Jahre später Prediger, das ist nicht selten die Carrière, die der Einzelne durchläuft. Darum ist auch die Vorbildung der amerikanischen protestantischen Geistlichen eine so verschiedene. Der Eine war wohl früher in der alten Heimath, in England oder Deutschland, Theologe, der Andere genoß vielleicht auf einem amerikanischen „College“ und Priesterseminar eine wissenschaftliche Erziehung, aber vielen Geistlichen, besonders denen im Westen, geht die akademische Schulung völlig ab.

Das schließt natürlich nicht aus, daß auf der andern Seite auch Geistliche angestellt sind, die, mit der ganzen Bildung unseres Jahrhunderts bewaffnet, als Philosophen, Historiker und Linguisten des besten Renommée’s genießen. Drei Namen besonders sind es, die in dieser Hinsicht einen Weltruf erlangt haben: Henry Ward Beecher, Thomas Talmage und John Hall, Letzterer in New-York, Erstere in der „Kirchenstadt“ Brooklyn.

Beecher ist der Oberpfarrer an der Plymouthkirche in der Orangestreet. Es ist mir stets ein hoher Genuß gewesen, Sonntags an dem von ihm geleiteten Hauptgottesdienste theilzunehmen. Kurz vor zehn Uhr Morgens füllen sich die zahlreichen Gallerien und Emporen, die über 6000 Personen zu fassen vermögen und die, so oft ich anwesend war, sich stets bis auf den letzten Platz besetzt zeigten. Die Orgel ertönt in weichen Melodien, dann stärker und lauter, bis sie in mächtigen Accorden erbraust. Die Uhr zeigt 15 Minuten nach Zehn. Beecher erscheint auf der ungemein geräumigen Tribüne im schwarzen Gehrocke und ohne jedwedes priesterliche Abzeichen. Trotz seiner 71 Jahre ist er eine stattliche Erscheinung, und nachdem er mit einem flüchtigen Blicke die Menge gestreift, nimmt er auf einem einfachen Rohrstuhle Platz. Auf einem, bisweilen auf zwei und mehr Tischen, denen gegenüber er sich niedergelassen, liegen herrliche Blumenspenden für ihn, die vielfarbigsten, die duftreichsten besonders im Januar und Februar, wo man vor Schnee und Eis nur mit Mühe den Weg zum Gotteshause sich bahnen kann. Zarte Hände brachten sie als Zeichen der Verehrung dar, denn Beecher ist der größte „Damenpastor“ von den Gestaden des atlantischen Oceans bis hinüber zum Pacific.

Jetzt nimmt der Gefeierte das Wort, und wir haben Gelegenheit, ein Organ von seltener Klangfülle bei einer Rhetorik zu hören, die geradezu classisch genannt werden muß. Ob er mit effectvollem Pathos, mit beißender Satire redet, ob er die weiblichen Zuhörer zu Thränen rührt, um zehn Minuten später das herzlichste Lachen auf die Mienen seiner Anhänger zu zaubern, er bleibt stets der große Sprecher trotz gewisser rednerischer Kunststücke, trotzdem er fast unaufhörlich von einem Ende der Tribüne zum andern mit Riesenschritten sich hastig bewegt, die Hände wie die Flügel einer Windmühle hin- und herwirft, um schließlich, nicht selten in Schweiß gebadet, seine Predigt zu beenden. Beecher ist nur in Amerika möglich, und darum erscheint es weiter erklärlich, wenn der unerschrockene Rationalist zugleich als ein ausgesprochener Frauenrechtler und Wasserapostel sich uns präsentirt. Das geflügelte Wort der Anhänger der Frauen-Emancipation: „Ich glaube, daß die Ehe ein vollständiges Compagniegeschäft ist; daß die Frau jedes Recht hat, welches der Mann besitzt – und noch eins mehr nämlich das Recht, beschützt zu werden“ – rührt von Beecher her.

Am 24. Juni 1813 im Staate Connecticut geboren, hatte Beecher ursprünglich die Absicht, sich dem Dienste in der amerikanischen Kriegsmarine zu widmen. Indessen studirte er später fleißig Theologie, Philosophie sowie Naturwissenschaften und wurde 1847 an die Plymouthkirche in Brooklyn berufen. Anfänglich mit 4000 Dollars angestellt, bezieht er gegenwärtig, bedeutende Spesen ausgeschlossen, ein Fixum von 25,000 Dollars. Trotzdem veranstaltet er alljährlich, wie bereits erwähnt, Vortragstouren, die sich stets sehr lohnend für ihn erwiesen haben. Außerdem ist er als Schriftsteller ununterbrochen für zahlreiche Nevuen und Journale thätig. Sein Landhaus am Hudson weist eine geradezu fürstliche Einrichtung auf.

Beecher’s Concurrent ist Thomas de Witte Talmage, der Hauptprediger am Brooklyner Tabernakel. Am 7. Januar 1832 zu Boundbrock im Staate New Jersey geboren, besuchte Talmage das New Yorker Priesterseminar, wurde schon im Jahre 1856 ordinirt, kam 1859 nach Syrakus, 1862 nach Philadelphia und sieben Jahre später nach Brooklyn, wo er noch heute seelsorgerisch thätig ist. Bis 1870 mußte Talmage in einem bescheidenen Gotteshause predigen. Das neue Tabernakel war zu jener Zeit noch nicht gänzlich fertig gestellt, und obendrein lasteten etwa 50,000 Dollars Schulden auf dem der Vollendung nahenden Baue. Diese Summe wurde während eines einzigen Gottesdienstes durch die Initiative von Talmage gedeckt. Kaum hatte er nämlich seine Predigt beendet – Talmage spricht gleich Beecher im schwarzen Leibrocke und in weißer Cravatte – als er einen tiefen „Cylinderhut“ ergriff, eine kurze zündende Ansprache an die Versammelten des Inhalts richtete, das genannte Deficit von rund 50,000 Dollars freundlichst decken zu wollen, und sofort persönlich mit dem Hute in der Hand die Collecte vornahm. Talmage war selbst der erste Geber. Er legte eine Anweisung auf sein vierteljährliches Gehalt hinein, worauf er zu Gunsten des Tabernakels freiwillig verzichtet hatte, und rasch füllte sich seine Kopfbedeckung mit Checks, Diamanten aus zarter Hand, großem und kleinem Papiergelde, Golddollars etc. Nach zwei Stunden konnte der gewandte Sammler mit freudiger Stimme verkünden, daß die Collecte den Betrag von 48,000 Dollars ergeben habe. Die Orgel erbrauste, die Chöre jubilirten, und die stattliche Zahl der Kirchenposaunisten that das Uebrige, um den nöthigen Schlußeffect bei diesem Acte zu erzielen.

Man erbaut sich bei Talmage nicht nur, man amüsirt sich, man lacht auch. In Wortspielen, in derben Witzen ist Talmage unübertrefflich. Ein leibhaftiger transatlantischer Abraham a Santa Clara! Wie Beecher predigt er über alle möglichen Themen. Einmal über amerikanische Ehescheidungen, acht Tage später über die Arbeiterfrage, ein drittes Mal über Kindererziehung, aber stets in geistreicher, zündender Manier. Fast jeder Satz ist ein Gedanke, eine Wahrheit oder eine kühne Hypothese.

Das Tabernakel selbst ähnelt, wie so viele amerikanische Kirchen, im Großen und Ganzen einem Circus oder Theater. Kein Gemälde, nirgends eine Decoration, abgesehen von den kostbaren buntglasigen Fenstern. Vom Schiff aus steigen die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 590. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_590.jpg&oldid=- (Version vom 21.10.2022)