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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

einmal den geheiligten Frieden des Hauses ehrte, hat ihn zurück gelassen.“

Ein dunkles Roth färbte seine Stirn. „So dürfen Sie einen überkecken Streich nicht auffassen, der schon heiß bereut worden ist,“ bat er erschrocken.

Er wollte das Spornrädchen in die Schale legen. Sie zog dieselbe zurück. „Es wird mit hinausgekehrt,“ sagte sie geringschätzig.

Er zuckte zusammen; aber er faßte sich. „Ich muß die Strafe hinnehmen; ich sehe ein, daß ich sie verdient habe. Aber das Plätzchen, das Sie ihm zwischen den Muschelchen angewiesen hatten, war doch schon bescheiden genug,“ versuchte er zu scherzen.

Sie ließ die Schnur von zierlichen Muscheln, die wie Tritonenhörner im Kleinen gestaltet waren, durch die Finger gleiten. „Das sind Muscheln vom Schlachtfeld von Marathon,“ sagte sie wichtig.

„Nun, das ist doch schon recht lange her,“ antwortete er, und es klang ein Vorwurf in seine Stimme hinein.

„Ja, es war in der zweiundsiebenzigsten Olympiade, am 12. September 490 vor Christus.“

„Wer weiß,“ erwiderte er mit leisem melancholischen Lächeln, „ob nicht dieses Spornrad Schlachten mitgemacht hat, die für Sie bedeutungsvoller sind als die von Marathon.“

Sie zuckte die Achseln und deutete mit kühl einladender Bewegung auf einen Sessel.

„Streiten wir heute nicht mehr, gnädiges Fräulein,“ sagte er. „Ich kam, um Ihnen eine Bitte vorzutragen. Wir geben ein Fest im Casino, zu dem die ganze Gesellschaft eingeladen wird. Natürlich ist es mein großer Wunsch, daß auch Sie und Ihre Frau Tante unsere Gäste sein mögen.“

Es glimmte in ihren Augen auf. „Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Absicht; aber ich muß die Einladung ablehnen.“

Er wurde ungeduldig und zog leicht die Brauen zusammen.

„Ich weiß, Sie besuchen nicht gern Gesellschaften. Aber diesmal müssen Sie um des Tages willen eine Ausnahme machen.“ Er wollte bitten; aber es lag ein schwer bezähmter Unmuth in seiner Stimme, und ohne es zu wollen, forderte er.

„Um welches Tages willen?“ fragte Ereme.

Seine Augen vergrößerten sich. „Es ist der 16. August,“ antwortete er, und da sie ihn verständnißlos ansah, fuhr er fort: „Der Tag von Vionville, den ich die Ehre hatte mitzumachen.“

„Vionville?“ wiederholte sie gleichgültig.

Er war einen Augenblick sprachlos. Dann sagte er langsam: „Sie wissen den Tag, an welchem die Schlacht von Marathon stattfand, und stellen sich, als gingen die Kämpfe Ihrer Landsleute Sie nichts an? Wollen Sie mich doch nicht glauben machen, daß Sie eine so schlechte Patriotin seien.“

Sie sah, wie das siegesgewisse Lächeln aus seinen Augen, von seinen Lippen geschwunden war. Sie fühlte, daß es zum ersten Mal in ihrer Macht lag, ihn zu treffen, wie er sie so oft gekränkt und verletzt hatte, und sie verfolgte schonungslos ihren Vortheil. Glühend von losbrechender Leidenschaft sprach sie: „Ich bin das echte Kind dieses Hauses, in dem zwei Jahrhunderte hindurch die akademische Bildung gepflegt wurde. Unser Vaterland ist die große Republik des Geistes; wir kennen keine Scheidewand zwischen Ländern und Ständen; für uns steht der Grenzpfahl da, wo die Bildung, in der wir leben, aufhört.“

Er fuhr empor. Sein Blick loderte über sie hin.

„Und Sie rühmen sich noch dieser kaltherzigen Welt, in der es schon eine That ist, einen zerbrochenen Marmorarm an den verwitterten Rumpf zu passen? Einstweilen haben meine Vorfahren die eigenen Knochen auf den Grenzen unseres Vaterlandes zerstreut, mit unserem Blut haben wir die Schutzmauer gekittet, hinter der Sie und die Ihrigen sicher saßen und Tinte vergossen.“

Sie zitterte innerlich vor Zorn. Aber äußerlich eiskalt antwortete sie: „So erkennen Sie endlich, wie weltenweit Ihre Anschauungen von den meinen entfernt sind, und daß keine Brücke sie je verbinden kann?“

Sie sahen sich an, und unter den Blicken erblaßten Beide bis in die Lippen. Nur eine Narbe an Witold’s linker Schläfe, die Ereme jezt zum ersten Mal bemerkte, wurde brennend roth.

Eine Weile blieb es still. Sie hörten deutlich den Holzwurm in den alten Büchergestellen ticken.

Beiden fehlte der Athem zu einem ferneren Wort. Endlich war es Ereme, als vernehme sie ein heiseres: „Aus.“

Er tappte ein paarmal unsicher nach der Czapka, um sie aufzunehmen. Dann verbeugte er sich stumm und ging.

Ereme hörte ihn langsam die Treppe hinabgehen.

Die Thür fiel zu. Der Thürklopfer schlug noch einmal auf, als bekräftige der Cerberus diesen Ausgang für immer.

Dann war es todtenstill.

Sie hatte gesiegt! –

Warum sank sie nun leichenblaß auf den Eulenstuhl nieder, schloß die Augen und hatte nur den einen Wunsch: wenn sie sie nie, nie wieder aufthun müßte! Warum? Ja, warum?


Mit schwerem Herzen war Melanie zu dem Fest gefahren, das die Officiere in den Casinoräumen gaben.

Bei der Toilette hatte ihr die Jungfer erzählt, daß Dorchen verdrießlich im Bäckerladen gesagt habe: „Nun wird’s nichts mit dem Brautputz. Unser Fräulein hat den Herrn Rittmeister mit seiner Einladung abgelehnt.“

So war der Bruch unwiderruflich erfolgt.

Die Wehmuth, die den Menschen immer beschleicht, wenn er, altbekannte Stätten bis zur Unkenntlichkeit verändert wieder findend, an die Vergänglichkeit seines Daseins erinnert wird, kam heute doppelt über die Stiftsdame, als sie das alte Schlößchen betrat, das, in eine Caserne umgewandelt, im Gartenflügel die Casinoräume enthielt.

In den Erzählungen ihrer Großmutter und alter Freunde ihrer Eltern hatte es eine Rolle gespielt. Ein apanagirter Prinz des Hauses sollte dort im vorigen Jahrhundert in einem verschwenderischen Hofleben eine unglückliche Jugendliebe vergessen oder übertäubt haben.

Jetzt war seine Devise „Vive la joie“ auf dem verschoben geformten Schild über dem Eingangsthor von grauen Flechten überwachsen; ein riesiges W aus blitzenden Pistolen gebildet und von einem grünen Eichenkranz umschlungen, erhob sich darüber. Aus den Ställen, wo sonst die berühmten Isabellen ihr behütetes Leben geführt hatten, tönte das Gewieher der Ulanenpferde, in den Remisen standen statt der vergoldeten Kutschen Fouragewagen.

Neues Leben pulsirte in dem verschnörkelten Gehäuse; aber der uralte Begleiter des Menschengeschlechtes ging auch heute noch darin um: der Schmerz.

Das sagten ihr das bleiche Gesicht, die düsteren Augen Bartenstein’s, der sichtlich nur mit äußerster Selbstbeherrschung den Zwang der gesellschaftlichen Rücksichten ertrug. Er hatte wohl die Erfüllung eines großen Herzenswunsches von diesem Fest erwartet. Aber das kokette Rococoschlößchen hatte es einmal an sich, daß es nur leicht geschürzte Freuden spendete. Auch heut gab es hübsche Damen, Leckerbissen, perlenden Wein – aber kein Glück.

Sie athmete auf, als das Diner zu Ende war, die Thüren nach der Terrasse sich öffneten und die Gesellschaft hinaus trat in die milde Abendluft, um im Freien den Kaffee zu nehmen.

Zwei schnurgerade Reihen von Pappeln zogen sich von den Ecken des Schloßflügels, die Terrasse flankirend, hinab bis zu dem Ufer des Flusses und eröffneten wie in einem geschlossenen Rahmen den Blick auf das blaue Gebirge, in dem derselbe entsprang. Zarte Nebel webten schon über Wiesen und Wasser; aber durch das raschelnde Pappellaub blinkten noch die rothen Strahlen der sinkenden Sonne.

Die zierliche Mokkatasse in der Hand trat Melanie vor bis an die Rampe, deren hier und da zerbröckelte Balustrade von einer Reihe durch Guirlanden verbundener Ulanenlanzen ersetzt war.

Zwischen den schlanken Schaften, deren schwarz-weiße Wimpel lustig im Wind flatterten, erhob sich als Ueberbleibsel des früheren Schmuckes von Sandsteinbildwerken ein kleiner bausbackiger Amor, der durch seine Pelzmütze anzeigte, daß er eine Personification des Winters war.

Auf einer Steinbank zu seinen Füßen nahm sie Platz, und ihr Auge überflog die Gesellschaft, die in fächelnden und lächelnden Gruppen durch einander schwirrte.

Drüben unter den alten Pappeln stand Bartenstein und schaute in die von der untergehenden Sonne durchleuchtete Ferne. Wie melancholisch konnten die sonst so übermüthigen Augen blicken! Zwischen den Lanzenschaften sammelten sich junge Officiere und steckten die Köpfe zusammen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 702. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_702.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2022)