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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Anstoß nehmen, und mit Recht; denn der Dichter soll aus seiner Zeit heraus dichten, und die Entwickelung unserer Poesie hat ja auch diesen Weg genommen. Mit Schiller’s genialsten Gedichten ist aber der Aufwand mythologischer Bilder unlöslich verknüpft. Sie erscheinen deshalb nicht weniger bewundernswerth, aber jedenfalls sind sie für unsere Zeit weniger nachahmenswerth.

Fremdartig ist auch der Gegenwart jene sentimentale Liebe, welche vor einem Jahrhundert ihre Wurzeln schlug in Werther und den Werther Romanen und in Jean Paul’s Heldinnen die idealsten Vertreterinnen fand. An diese Richtung seiner Zeit hat auch Schiller den damals unerläßlichen Tribut abgetragen: die Liebe eines Max und einer Thekla ist zu schattenhaft, zu unsinnlich, und während die frische Sinnlichkeit eines Gretchens und Clärchens jeder Zeit verständlich bleiben wird, sind wir jener sentimentalen Liebe der Wallenstein-Tragödie und ähnlichen Gefühlsergüssen in den Gedichten mehr oder weniger entfremdet. Wenn sich der Zeitgeschmack hiervon sowie von dem mythologischen Ballast der Schiller’schen Lyrik abgewendet hat, so kann ihm die ästhetische Kritik nur Recht geben.

Etwas Anderes ist es mit der Abwendung von allen idealen Tendenzen, von jeder höheren Richtung der Poesie: diese ist unleugbar eine bedauerliche Thatsache, der gegenüber der Eifer der jüngeren unermüdlich strebenden Talente erlahmen muß. Es wäre eine große Einseitigkeit, etwa die Schiller’sche Richtung als die ausschließlich berechtigte hinstellen und der Poesie alle anderen Wege versperren zu wollen: liegt doch schon in dem großen Dioskuren Schiller’s, in Goethe, die Correctur dieser Einseitigkeit; eine große Zahl tüchtiger Begabungen wandelt die Wege Goethe’s, und charakteristisch für sie ist das Streben nach dem Ausdrucke inniger einfacher Empfindung und unverfälschter Lebenswahrheit, allerdings mit jenem Hauche poetischer Verklärung, welcher die Schöpfungen des großen Dichters umschwebt. Doch diese Lebenswahrheit in fahler Nacktheit, in Gestalt der alltäglichsten Prosa ist neuerdings das herrschende Gesetz der Tagesliteratur geworden – und hierin liegt jedenfalls eine Verleugnung der Schiller’schen Principien, die zugleich eine verwüstende Wirkung auf die Entwickelung unserer Dichtung ausübt. Viel haben schon die deutschen Realisten und ihre kritischen Herolde gesündigt, es ist soviel geistig Nichtiges und Triviales mit dem Weihwasser ästhetischer Anerkennung besprengt worden, daß die Instincte des großen Publicums, welche dieser Lebenswahrheit immer entgegenkommen, dadurch gestärkt wurden. Gleichwohl hielt sich auch diese Richtung, obschon Schiller selbst ähnliche Bestrebungen der Zeitgenossen als eine Misere bezeichnete, „der nichts Großes passiren kann“, noch innerhalb gewisser Schranken des guten Geschmackes.

Da brach aber von Frankreich eine ästhetische Sturmfluth herein, in der auch diese Schranken überfluthet wurden; und jene Werke waren nicht der Erguß überschäumender Jugendlichkeit, einer wilden Lebenspraxis, sondern sie brachten gleichzeitig eine ästhetische Gebrauchsanweisung mit, ein neues Evangelium der Dichtung; und wie alles, was von der Seine kommt, eroberten sie im Sturm ein großes Publicum, fanden begeisterte Anwälte unter den Kritikern und zeigten wiederum, daß die Besiegten von Sedan noch immer die geistigen Besieger Deutschlands sind. Hier galt es nicht nur die einfache und schlichte, hier galt es die nackte und vor allem die häßliche Natur, und Schiller hätte gewiß, wie in seiner Kritik Blumauer’s, auch in derjenigen Zola’s erklärt, daß bei diesen Werken die Grazien Reißaus nehmen. Das Widerliche, Abschreckende, Ekelhafte zu schildern, wurde als eine große That der Dichtung gepriesen; nicht blos das wilde Feuer der Leidenschaft fand hier seinen Ausdruck, sondern auch die dämonische Besessenheit durch den Naturtrieb in allen ihren Verirrungen. Jeder künstlerische Aufbau einer Dichtung wurde verworfen als ein Verstoß gegen die Naturtreue; man wollte nur einzelne Fetzen des Lebens in Romanen und Dichtungen geben. Und das war alles nicht Ausgeburt einer einzelnen ausschweifenden Phantasie, eines urwüchsigen Originalgenies, das seine ganz aparten Wege ging; nein, das war die Losung, das Palladium einer ganzen Schule.

Für die Anhänger und Anhängerinnen dieser Richtung, des neuen deutsch-französischen Naturalismus, ist Schiller natürlich ein todter Mann; er schuf ja Kunstwerke – überflüssige Mühe, da der Dichter nur das Leben abschreiben soll; er war ein lyrischer Dichter – und mit der Lyrik ist’s zu Ende; für Zola ist die Lyrik nur eine poetische Exaltation, die dem Wahnsinn ganz nahe steht, Musik, die von nervösen Frauen applaudirt wird; er haßt ihre Phrasen und die Luftsprünge in’s Blaue; was er von Victor Hugo sagt, würde er mit noch schärferer Betonung von Schiller sagen – er sieht in jenem nur einen großen Sprachkünstler, der für die jetzt kommende wahre Poesie die Waffen geschmiedet und den Weg gebahnt hat. Nein, zwischen Schiller und Zola giebt es keine Brücke mehr, und derjenige Theil unseres Publicums, der zu dem letzteren schwört, macht sich der Fahnenflucht schuldig gegenüber unserem großen Dichter. Es sind das vielleicht Augenblicksbilder des Zeitgeschmacks; aber es kommen wieder andere, und so bleibt die Desertion beständig.

Doch auch vom Zeitgeschmack abgesehen, giebt’s und gab es von jeher gesellschaftliche Kreise, in denen es zum guten Ton gehörte, von Schiller gering zu denken; wir möchten diese ganze Richtung als Schiller-Blasirtheit bezeichnen. Den vornehm Geistreichen, welche sich in Ironie und spielendem Witze gefielen, kam der Dichter mit seinem oft feierlichen Ernst und seiner unbeugsamen sittlichen Haltung als ein subalterner Geist vor, auf den sie glaubten herabsehen zu können. Die Romantiker gaben hierin den Ton an; jene Karoline Schlegel-Schelling wollte mit ihren Freundinnen vor Lachen vom Stuhle sinken, als sie zuerst das Lied von der „Glocke“ lasen – so kleinbürgerlich kam ihnen das dumme Ding vor. „Der bleierne Schiller,“ sagte Schlegel – und so ist’s geblieben in den Kreisen der Geistreichen, wo die Orgien des Esprit gefeiert werden! Ihm fehlte zu sehr die glänzende Beweglichkeit; er verstand es nicht, mit souverainem Hohn über den Dingen zu stehen; er ging in dem, was er schuf, in dem Dichterworte, das er verkündete, auf mit seinem ganzen Herzen – in der That, der Shakespeare’sche Bilderwitz wie das französische bonmot waren ihm fremd, ebenso Goethe’s gefällige und graziöse Lebensweisheit, welche den harmonischen Genuß auf ihr Wappen geschrieben hatte; die Weltmänner wußten sich nichts für ihr Leben aus Schiller anzueignen – so war’s zu seiner Zeit, und so ist’s noch heute!

Doch alle hatten als Knaben in der Schule seine Balladen declamiren, Aufsätze über ihn und seine Stücke schreiben müssen. So galt er ihnen als Dichter für die Schulbänke, sie hatten ihn dort zur Genüge, zur Sättigung genossen: auf seinen Werken ruhte der Schulstaub; wie konnten sie dieselben in die Hand nehmen, ohne ihre weltmännische Toilette zu beflecken? Daß sie schillermüde, daß sie schillerblasirt sind, das ist ja eben ein Zeugniß ihrer geistigen Bedeutung. Schiller ist ihnen ein Dichter für das Volk, für welches die Schule zeitlebens den Höhepunkt der Bildung vertritt; seine Balladen eignen sich nur für Schuldeclamationen und seine Stücke für die Gallerie – höchstens gelten seine Werke noch für ein Schatzkästlein geflügelter Worte, mit denen man gelegentlich glänzen kann. Auch galt Schiller besonders als ein Dichter der Frauen; doch auch hierzu macht die heutige Bildung vielfach ihre Fragezeichen. Frauen, welche ihren Zola lesen, werden es jedenfalls für eine überflüssige Arbeit halten, himmlische Rosen in’s irdische Leben zu flechten.

Diese Schiller-Blasirtheit in gewissen socialen, besonders auch in gelehrten Kreisen findet nun ihre Unterstützung in weitverbreiteten literarischen Anschauungen: nicht nur die nüchternen Aufklärer Berlins, sondern auch die Romantiker mit ihrer phantastischen Ueberschwenglichkeit und überlegenen Ironie sind nicht müde geworden, Schiller herabzusetzen. Ihnen schlossen sich die neueren Realisten und Shakespearianer, wie Otto Ludwig, an: eine geharnischte Gegnerschaft gegen Schiller geht durch unsere ganze neuere Literatur. Hierzu kommen die Antipathien der Feudalen und Orthodoxen gegen den Freiheitsdichter Schiller, gegen den freigeistigen Sänger der „Götter Griechenlands“ – kurz, die Schiller-Blasirtheit als eine weitverbreitete Stimmung in gewissen socialen Kreisen könnte sich auf eine Menge literarischer und gelehrter Autoritäten stützen.

Fast schlimmer noch als die Schiller-Blasirtheit ist die Schiller-Heuchelei – und auch diese ist weit genug verbreitet. Die Gleichgültigen und Unempfindlichen, sowie die verkappten Gegner bekennen sich aus verschiedenen Rücksichten äußerlich zu dem Dichter, ohne ihm innerlich anzugehören. Es ist unglaublich, wie viel unsere Zeit in literarischer und künstlerischer Heuchelei leistet, und diese ist bald naiv, indem man sich selbst zu überreden sucht, sich für Kunstwerke zu begeistern, die einem im Innersten fremd sind,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 794. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_794.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2022)