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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

des alten Gratien bei dem Wachtposten angelangt war, trat Margot plötzlich aus der Wohnung Pujol’s und sagte diesem mit einem Anfluge von Trotz:

„Ich begleite den Großvater bis hinaus vor das Thor.“

„Kehre nur wieder für immer mit ihm heim!“ antwortete ihr der Alte mit seinen rauhesten Tönen. „Eine Dirne, wie Du, die nicht einmal die Carmagnole und das ‚Ça ira‘ kennt, kann ich in meiner Wirthschaft nicht gebrauchen.“

„Recht so, Pujol, alter Knabe!“ lallte Le Borgne. „Eine solche Dirne taugt selbst dem Henker nicht! Jage sie zu allen Teufeln!“

Der Karren mit seinem Führer, seiner gefährlichen Ladung war schon draußen auf der Gasse und Margot schritt neben dem alten Gratien dahin, unbekümmert um das, was der Trunkenbold ihr nachrief, wie um das Lachen und Scherzen des frechen Pöbels, der sie und die davonziehenden Karren umringte und begleitete. Sie ballte die Finger, welche sie nicht zum Gebet falten durfte, fest zusammen, und nur die nassen Blicke sandte sie mit einem unaussprechlich seligen Ausdruck nach oben, dem Herrn zu danken für die Rettung des Gatten, den sie jetzt schon geborgen und ihr für immer wiedergeschenkt wähnte.

Arme Frau!

Eine bange Viertelstunde und das Thor der Landseite, welches nach der Brücke des Cher führte, war erreicht. Hier brannte vor der Wachtstube der Sansculotten ein großes Feuer, das den Weg erhellte und die Aus- und Einziehenden besser erkennen ließ. Der Auszug der Karren war den Wachen bekannt und ungehindert passirten die ersten, mit Gäulen bespannten Fuhrwerke das Thor. Jetzt kam der Karren des alten Gratien, und trotzdem Margot sich in den Schatten des Gefährts drückte, wurde sie bemerkt und erkannt. Eine neue Gefahr erstand ihr und machte das Herz der starken Frau zum Zerspringen schlagen. Die Wächter eilten auf die andere Seite des Karrens, rissen sie mit Gewalt in die Nähe des flackernden Feuers, um sie besser zu betrachten, mit Späßen, die immer derber wurden, zu necken und zu höhnen. Dabei mußte Gratien mit seinem Fuhrwerk Halt machen. Vergebens bat der Alte mit zitternder Stimme, sein armes Enkelkind Margot ziehen zu lassen; vergebens rang diese die Hände, ihre Bitten mit ihren Thränen vereinigend, es half nichts. Je mehr sie sich sträubte, je kecker, wilder gestaltete sich die Lustbarkeit der Unholde. Da rief Einer: „Werft neues Stroh in das Feuer, damit es heller aufflackert und wir die braune Hexe besser sehen und bewundern können. Der Karren ist ja hochauf damit beladen!“ – „Vorwärts, greift zu!“ schrieen Andere, und wohl ein Dutzend Hände begannen das Stroh von dem Karren herabzureißen und in das Feuer zu werfen, welches plötzlich mit unheimlichem Knistern haushoch aufflackerte und den Platz ringsum mit einem grellen Schein beleuchtete.

Zugleich wurden von verschiedenen Seiten laute, wilde Rufe der Männer laut, von einem einzelnen Angstschrei einer weiblichen Stimme schneidend durchtönt, und von dem Karren zerrten die Wächter einen Mann in Bauerntracht zur Erde, der sichtbar geworden war, nachdem man das Stroh entfernt hatte. Vergebens versuchte er sich mit einer Eisenstange zu wehren, nur zu rasch wurde er von der Menge überwältigt. Der alte Gratien wußte nicht was beginnen, dort war seine Begleiterin mit einem grellen Aufschrei ohnmächtig, wie leblos zu Boden gesunken, und hier schleppte man seinen armen Herrn herbei, der, die Lippen fest auf einander gepreßt, mit stolzen, zürnenden Blicken auf seine Bedränger niederschaute, die ihn nicht erkannten und dennoch mit immer wilder ertönenden Flüchen bedrohten. Dem Grafen mußte der Alte sich zuerst zuwenden, denn dieser schwebte in größter Gefahr. Mit zitternder Stimme, die Hände flehend erhoben, rief er jammernd: „Laßt ihn! – laßt ihn, Ihr guten Leute! Es ist ein Nachbar – der ermüdet auf dem Stroh meines Karrens eingeschlafen war.“

Lautes höhnendes Lachen beantwortete diese zagend vorgebrachte Rede; es war, als ob sie genau das Gegentheil von dem bewirkt hätte, was der alte treue Diener zu erreichen versuchte. „Fort mit ihm, nach der Abtei!“ schrie es von allen Seiten, „dort wird man schon erfahren, wer der verdächtige Vogel ist, der sein Nest so tief unter das Stroh baute.“

Graf René wurde von einem Theil der Sansculotten ohne Aufenthalt wieder die breite Hauptstraße zurück, in der Richtung nach der Abtei St. Martin davongeführt, während die Anderen als Wächter des Thors und der beiden Begleiter des Gefangenen zurückblieben. Das Volk hatte sich des Karrens des alten Gratien als guter Beute bemächtigt und lärmend, johlend, das „Ça ira“ singend, fuhr man mit ihm davon, der Stadt zu. Das Stroh der übrigen Karren, welche von hier aus die Stadt verlassen hatten, wurde durchwühlt, doch als man nichts Verdächtiges fand, ließ man die Leute ziehen.

Gratien und die noch immer wie leblos am Boden liegende Margot fanden sich von Sansculotten umringt und von diesen durch Worte und Geberden hart bedroht. Einer der Elenden wollte die Ohnmächtige durch einen kräftigen Stoß seiner Pike „für die Guillotine“ wieder in’s Leben wecken, wie er höhnisch meinte, doch wurde er glücklicher Weise an solchem unmenschlichen Beginnen durch einen weniger fühllosen Cameraden gehindert. Endlich schlug Margot die Augen auf. Einige Augenblicke irrten die Blicke wie noch immer abwesend umher, die Lippen bewegten sich, als ob sie nach Worten rängen, bis endlich in einem zitternden Seufzer der Name „René“ hörbar wurde.

Da schrie einer der Sansculotten: „Ah! die Dirne hat uns verrathen, wer der Bursche ist, den wir fingen. René heißt er, Graf René von Semblancay ist es, den gestern die Patrioten einbrachten, und der heute in der Jacke eines Patrioten uns entwischen wollte!“

Ein toller Freudenjubel erhob sich nach diesen Worten, und in wildem Durcheinander rief es: „Auf, auf! dem elenden – verrätherischen Aristokraten nach! – Nach der Abtei! – Und die Beiden müssen mit, sie waren seine Helfershelfer und haben die Guillotine so gut verdient wie der Aristo!“

Arme Margot! Wieder zum Leben erwacht, hatte sie in der gräßlichsten Angst ihres Herzens den Namen preisgegeben, der das Todesurtheil für ihn, den sie so muthig zu retten getrachtet hatte – für sie selbst werden konnte. Doch würde sie auch nicht geredet haben, René wäre doch verloren gewesen, man hätte ihn in der Abtei trotz seiner Verkleidung erkannt. Arme Margot!

Beide, der alte Gratien und Margot, wurden hinter dem ersten Trupp drein und nach der Abtei gezerrt, doch als sie dort anlangten, war die erste, größte Aufregung bereits vorüber. Das plötzliche unerwartete Erscheinen des Grafen, den man in sicherem Gewahrsam glauben durfte, hatte auf die trunkenen Sansculotten ernüchternd gewirkt. Anfänglich überfiel sie ein starres Staunen, das sich jedoch bald in Wuthausbrüche wandelte. Der Erste, welcher sich gefaßt hatte und doch am schwersten davon hätte betroffen sein müssen, war der alte Pujol. Zugleich handelte er. Auf Le Borgne stürzte er sich, faßte ihn derb am Halse, und ihm den Schlüsselbund zu entwinden suchend, schrie er in gut gespielter wilder Aufregung: „Schurke! Du hast ihn entwischen Lassen! Nun sollst Du mit ihm das Gefängniß theilen – mit ihm auf das Schaffot, denn mein Amt als Schließer übernehme ich wieder – und verhafte Dich! Her mit den Schlüsseln!“

Doch Le Borgne war jünger und kräftiger als Pujol. Nach dem ersten Schrecken schleuderte er den alten Mann weit von sich und sprang auf die Kirche zu, wohin die Anderen den Gefangenen zerrten. Wenige Minuten nur, und er trat mit seinen Leuten wieder aus dem Gefängniß hervor, schreiend: „Durch das Fenster ist er ausgebrochen, eine Eisenstange fehlt, und nur von draußen kann sie entfernt worden sein. Pujol ist der Verräther!“

Le Borgne war jetzt Herr der Situation, und keiner seiner Genossen wagte ihm zu widersprechen, sie fügten sich sogar mit einer grimmen, gierigen Freude seinen Befehlen. Zweien der Sansculotten herrschte er zu, sich mit ihren Piken draußen vor das beschädigte Fenster aufzustellen, dort Wache zu halten und den elenden Aristokraten niederzustechen, wenn er sich ihnen nur zeigen würde. Dann schloß er die Kirchenpforte ab, und auf das zuschreitend, knirschte er mit einem zornglühenden Blick auf Pujol zwischen den Zähnen: „Nun kommt die Reihe an Dich, Du schuftiger Verräther.“

Der arme Pujol, durch den empfangenen Stoß schwer getroffen, vermochte sich kaum auf den Füßen zu halten, dennoch war er gewillt, den Kampf mit dem Unhold aufzunehmen. Leider kam es nicht dazu, denn jetzt zog der zweite Trupp der Thorwachen mit seinen beiden Gefangenen in den Hof ein. Mit welcher wilden Freude wurde Margot von dem wüthenden Jacobiner

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 799. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_799.jpg&oldid=- (Version vom 11.10.2022)