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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

dem neuen Volkstribunen konnte keine lebendige sein, denn Carrier’s Herz war von einem wilden Grimme, einer ohnmächtigen Wuth erfüllt, und wehe denen, die ihm jetzt als Opfer unter die Hände gefallen wären! Doch vor der Hand war er unschädlich geworden und ging dabei unbewußt seinem eigenen Untergang entgegen.

Bei dem Dorfe La Croix-Verte waren sie über die Loire nach Saumur und dessen altem Schlosse gefahren, in dem sich die republikanischen Behörden eingenistet hatten, und wo sich zugleich das Tribunal und die Gefängnisse befanden. Nach flüchtiger Revision der Acten durch Saint-André wurde der Tag unter den Jacobinern und Sansculotten festlich beschlossen. Der Wein floß dabei in Strömen, und in bewußtlosem Zustande suchten die würdigen Bürger des neuen Frankreichs und dessen Repräsentanten ihr Lager auf, um am andern Tage ihren Triumphzug nach Tours und Orleans fortzusetzen.

Gegen fünf Uhr in der Frühe sprengte ein Reiter, der sich durch sein Aeußeres sofort als echten Sansculotten und Jacobiner kennzeichnete, auf schweißbedecktem Pferde in den Schloßhof. Es war Le Borgne, der den weiten Weg von Tours bis Saumur in etwa sieben Stunden zurückgelegt hatte. Nach dem Bürger Carrier fragte er und verlangte dringend in wichtiger Angelegenheit ihn zu sprechen. Doch der Gesuchte schlief noch, trotzdem weckte man ihn. Der viele genossene Wein und der ihn verzehrende Ingrimm hatten ihn aber derart überwältigt, daß er erst nach langem Rütteln wieder zum Leben erwachte. Dann dauerte es noch eine ganze Weile, bis ihm die Besinnung wiederkehren wollte. Nun ließ er den Mann vor sein Lager kommen und forderte ihn fluchend auf zu reden, mit der Drohung, daß, wenn sein Bericht nicht die Mühe des Aufwachens lohne, er den Störer seiner Ruhe auf die Guillotine senden würde. Und Le Borgne erzählte von der Befreiung des Gefangenen in Tours.

Je weiter er redete, desto aufmerksamer horchte Carrier, und unheimlich begannen seine Augen unter den dunklen zusammen gezogenen Brauen zu leuchten, die schmalen Lippen sich in verhaltenem Grimm zusammenzuziehen.

Kaum hatte Le Borgne seinen mit den niedrigsten Schmähungen auf Bouilly, Pujol und das ganze Tours erfüllten Bericht geendet, als Carrier mit beiden Füßen aus dem Bette sprang, seine ganze Gestalt zitterte in zorniger Aufwallung und die Fäuste geballt schrie er:

„Und diesen aristokratischen Schuft, der gegen uns in der Vendée kämpfte, hielt Bouilly zwei Tage in Händen – und er lebt noch? Und sein Henker verhilft dem Gefangenen zur Flucht? Unerhört! nicht zu glauben, nicht zu fassen! Doch Geduld, Carrier ist in der Nähe und wird Euch richten. Alle – Alle! und wenn ich selber den Henker machen müßte.“

Rasch zog er sich an, jagte die harrenden Diener, welche voller Angst den Wuthausbruch des schrecklichen Menschen mit angehört hatten, hinaus, ihm und dem wackeren Jacobiner Wein und Speisen zum Frühstücke zu bringen, denn in einer Viertelstunde müsse er zu Pferd und auf der Straße nach Tours sein. Und nicht eher wolle er ruhen noch rasten, bis die elenden Feinde der Republik sammt und sonders ihre Verrätherei auf der Guillotine gebüßt hätten.

„Der André, der eitle Narr, schläft noch und wird noch Stunden schlafen,“ so murmelte er schließlich mit einer grimmen Verachtung vor sich hin, „und langt er in Tours an, so wird dort die Arbeit gethan sein.“

Wie freute Le Borgne sich dieser wildzornigen Energie, und um die Rückkehr keine Minute zu verzögern, verschlang er förmlich die Speisen, welche ihm vorgesetzt wurden. Als das kräftige Frühstück verzehrt worden war, eilten Beide in den Schloßhof nach den Ställen. Carrier befahl, den Bürger Saint-André nicht zu wecken und, wann er endlich aufgewacht sein würde, ihm zu sagen, daß er, Carrier, nach Tours vorausgeritten sei. Dann wurden zwei Pferde der Husaren gesattelt und ohne Rücksicht auf die Widersprüche der Soldaten von Carrier und Le Borgne bestiegen, die dann in raschem Trabe das Schloß und die Stadt verließen, um über die Loire La Croix-Verte und die nach Tours führende Straße zu erreichen.

Ihr Auszug war indessen von Saint-André nicht unbemerkt geblieben, denn Carrier hatte in seiner Stube wie im Hofe laut genug geschrieen und getobt, um von den Schläfern im Schlosse gehört zu werden. Kaum hatte daher der Commissair des Wohlfahrtsausschusses Näheres über den frühen und scharfen Ritt seines Gefährten erfahren, als er, Unheil witternd, sofort seinen Leuten Befehl gab, den Wagen anzuspannen und sich zur Abreise bereit zu machen. So kam es, daß keine halbe Stunde später auch Saint-André mit seinem Gefolge sich auf dem Wege nach Tours befand.

(Schluß folgt.)


Stephen Grover Cleveland.

Von Max Horwitz.

Seit der ersten Erwählung Abraham Lincoln’s war der Kampf um die Präsidentschaft in den Vereinigten Staaten von Nordamerika nicht so heftig wie in diesem Jahre, so lauten übereinstimmend alle Nachrichten aus der Union. Seit Monaten haben die Vorgänge bei diesem Ringen um die Macht auch Europa in Spannung erhalten. In Deutschland insbesondere nahm man mehr als vorübergehenden Antheil an der Entwickelung der Dinge, und es ergab sich die ihrer Seltenheit wegen auffallende Thatsache, daß in der Beurtheilung der amerikanischen Wahlvorgänge alle Parteien, wie weit sie auch in Bezug auf uns viel näher liegende Dinge aus einander gehen, in diesem Falle sich in merkwürdiger Uebereinstimmung befanden. Von den Zeitungen, die mit Eifer und einer besseren Sache werther Begeisterung für die Rückkehr zu veralteten Zuständen eintreten, bis zu den Kämpen der Socialdemokratie fand nur der eine Wunsch Ausdruck, daß Grover Cleveland gewählt werden möge, der Mann, den wir im Bilde heute den Lesern vorstellen, und der am 4. November dieses Jahres in der That als der Erwählte der amerikanischen Nation aus der Urne hervorgegangen.

Auf vier Jahre hinaus ist Grover Cleveland berufen, die Regierung des großen amerikanischen Freistaats zu leiten. Der Wunsch, etwas Näheres über ihn zu erfahren, ist demnach ein berechtigter. Aber nur in geringem Maße kann diesem Wunsche Rechnung getragen werden. Ist Cleveland ein großer Staatsmann, haben seine hervorragenden diplomatischen Eigenschaften die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt? Durchaus nicht, denn er hat bisher keine Gelegenheit gehabt, solche Eigenschaften zu bethätigen. Ist er ein in der Parteigeschichte seines Landes erprobter Politiker, ein Führer, der schon zum Siege geführt hat? Auch das nicht, denn er hat sich von jedem Eingreifen in das politische Getriebe fern gehalten. So ist er vielleicht ein Großindustrieller, der durch tiefen Blick und furchtlosen Unternehmungsgeist sich einen Namen gemacht? Auch das wäre falsch, denn bis vor wenigen Jahren war er nur Advocat in der Stadt Buffalo, jener Stadt, die, an der Schwelle der Niagarafälle gelegen, von allen europäischen Touristen Amerikas besucht wird. Auch als Redner hat er keine Erfolge aufzuweisen. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Schweiger, der während der langen Monate des Kampfes auch bei den glänzendsten Ovationen kaum ein paar Worte des Dankes gesprochen. Fragt man nun aber, was in aller Welt Grover Cleveland denn eigentlich sei, wenn alles Das verneint wird, was in erster Reihe bei der höchsten Auszeichnung, die ein Land zu vergeben hat, in Frage zu kommen pflegt, so kann die Antwort in drei Worten gegeben werden: Er ist „an honest man“ – ein ehrlicher Mann.

Seit dem Ausbruche des Bürgerkrieges in der Union, seit 1860, als der unvergeßliche Abraham Lincoln gewählt wurde, hat sich – ein in der Geschichte der Vereinigten Staaten noch nie dagewesener Fall – die republikanische Partei ununterbrochen in der Regierung behauptet. Es war ihr eine heilige und weitausschauende Aufgabe zugefallen. Der Befreinng der Neger aus schmählicher Knechtschaft mußte die Sicherstellung gegen ihre früheren Besitzer, ihre Erziehung folgen. Den Männern, welche ihre Ketten zerbrachen, fiel ganz naturgemäß die Aufgabe zu, sie in den Stand zu setzen, sich ihrer Freiheit auch zu erfreuen. Und nicht allein das! Im besiegten Süden gährte es noch lange. Mit starker Hand mußte jeder Versuch einer neuen Erhebung niedergehalten werden. Es galt, durch eine vernünftige Finanzwirthschaft den verpfändeten Credit des Landes einzulösen, die gewaltige Schuldenlast zu tilgen. Es kam darauf an, die ruhige, friedliche, glückverheißende Weiterentwickelung des Landes wieder anzubahnen, welche durch die Secession der Südstaaten eine so lange und gewaltsame Unterbrechung erlitten. Wem anders konnte diese Aufgabe zufallen, als der Partei, welche den Zerfall der Union verhindert hatte?

Mit gewaltigen Majoritäten entsandte denn auch die amerikanische Nation nach der zweimaligen Erwählung Lincoln’s zweimal den Generalissimus der Armee, General Grant, in das Weiße Haus zu Washington. Schon damals machten sich starke Anzeichen bemerklich, daß der lange Besitz der Macht – es waren nun sechszehn Jahre vergangen – die Inhaber der Regierungsgewalt übermüthig gemacht. Grant selbst ging leider nicht ohne Makel aus dem Amte. Während seiner Verwaltung griff das Piratenthum unter den Beamten in erschreckender Weise um sich. Er selbst, so beschuldigen ihn seine Gegner, hat es nicht verschmäht, sich auf Kosten der Nation Vortheile zu verschaffen. Das war’s auch vornehmlich, was ihn beim dritten Versuch, das Amt zu behaupten, unterliegen ließ, denn damals schon beschlossen die um das Heil ihrer Partei besorgten Republikaner, reine, makellose Männer als Candidaten aufzustellen, indem sie darin die einzige Möglichkeit fanden, den etwas locker gewordenen Halt im Volke zu befestigen. Zweimal hinter einander gelang das auch. Rutherford B. Hayes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 803. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_803.jpg&oldid=- (Version vom 11.10.2022)