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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

„Meine Herren!“ Die Stimme des alten Mannes unterbrach das Gespräch ziemlich hastig; „was es auch gewesen sei, das den Beklagenswerthen zu jenem Schritte trieb – urtheilen wir milde, lassen wir den Schleier darüber! Es müssen nicht immer die beiden großen Triebräder der Menschennatur sein, die einen verzweifelten Entschluß zur Ausführung bringen, – ich meine, man kann auch durch andere Ursachen als Hunger oder Liebe soweit kommen, es für vortheilhafter zu halten, die Erde mit dem unbekannten Jenseits zu vertauschen.“

Die Zeit war über dem Geplauder dahingegangen. Meine Freunde wurden daheim erwartet, zwei von ihnen hatten Weib und Kind; den Arzt trieb es zu seinen Kranken. Ich saß plötzlich allein mit Herrn Johann Rüdiger in dem dämmernden Gastzimmer; nun erhob er sich.

„Ich komme mit, wenn Sie es gestatten,“ sagte ich und nahm den Hut vom Pflocke. Und so schritten wir stumm neben einander her den schlecht gepflasterten Markt entlang, vorüber an dem rauschenden Brunnen, der von lärmenden Kindern umspielt wurde, in eine stille Straße, an deren Ende finster und schweigend das fürstliche Schloß ausgebreitet lag. Es war ein Mai-Abend, noch im Anfange des Monats, und die fürstlichen Gärten sandten einen Strom von Duft zu uns herüber; eine Wonne, ihn einzuathmen. Ich nahm mir vor, noch einen Gang durch den menschenleeren Park zu thun, um die Nachtigallen schlagen zu hören; denn ich befand mich just in der Stimmung heute, und zudem – die stets einsamen Gärten mit den herrlichen Bäumen waren immer meine Freude gewesen.

Ich glaube, ich sagte etwas Dergleichen zu meinem Begleiter, der still neben mir herwanderte, das Haupt gesenkt, als zähle er die Steine des Pflasters. Er sah mich an und blieb stehen.

„Wenn Ihnen, mein Herr, etwas an dem Dufte des Flieders liegt, so machen Sie mir die Freude, in meinen Garten zu treten,“ sagte er mit gewinnender Freundlichkeit; „noch zwei Schritte, und wir stehen vor meinem Hause. – Sie stören mich nicht, nein, wirklich nicht!“ redete er mir zu, als er sah, daß ich eine höfliche Einwendung machen wollte. Und in weiteren zwei Minuten war ich der unerwarteten Einladung wirklich gefolgt und durchschritt an der Seite des alten Mannes einen mächtigen Flur, der das ganze Haus durchmaß, ging mit ihm über einen von Nußbäumen beschatteten Hof und stand bald in dem vielbesprochenen Garten, der mir in der That einen Ausruf der Bewunderung entlockte, obgleich die leichte Dämmerung bereits einen Theil seiner Schönheit verhüllte.

Es giebt Gärten, so traulich, so heimlich, so voller Poesie, voll echter deutscher Poesie, daß man kein Herz haben müßte, wenn man nicht der Lieder gedächte, die das Volk singt von seinem Lindenbaume, oder von einer dunklen Laube, darinnen es flüstert – Gärten, in denen man träumt von Freude, von Weltabgeschlossenheit und stillem Glücke, und ein solcher Garten lag vor mir. Da rauschten im Hintergrunde uralte Linden und beugten flüsternd ihre Zweige zu den fürstlichen Nachbarn hinüber, die jenseit der hohen epheuübersponnenen Mauer standen; Kastanien weckten die Erinnerung an die Kinderspiele im Garten des Vaterhauses, rings umher blühten Flieder und Jasmin und hauchten ihre Düfte mir entgegen, und in edler unvergänglicher Schöne hob sich blendend weiß eine marmorne Pallas Athene von der dunklen Taxuswand, und über alle diesem lag der Maienzauber.

„Wie glücklich müssen Sie hier sein!“ sagte ich und folgte dem alten Herrn auf die Terrasse am Hause. Er nahm den Hut ab, und ein stilles Leuchten innerer Befriedigung glitt über sein Gesicht.

„Empfinden Sie es schon, daß Einsamkeit Glück ist?“ fragte er; „es ist ein wenig zeitig, will mich bedünken.“ Er lächelte dabei und klopfte mich auf die Schulter. „Nun wollen wir aber den Mai-Abend feiern. Bücken Sie sich einmal, mein junger Freund – dort rechts nach der Vertiefung unter dem Fenster – so ist’s richtig, greifen Sie nur zu. Er ist immer kühl da,“ fuhr er fort, als ich zu meiner Verwunderung eine schlanke Rheinweinflasche erfaßt hatte, „immer die richtige Temperatur, und man braucht nicht erst in den Keller zu steigen; die Steinplatte hält gut frisch. Und hier“ – er langte, sich auf dem Stuhle wendend, nach der Fensterbank, wo umgestürzt zwei alte grüne Römer standen, und setzte sie auf den Gartentisch – „sind die Gläser. Es wird gut thun, ist doch jetzt die duftige Maiweinzeit, die Scheffel so wunderbar in seinen durstigen Liedern besingt.“

Und nachdem er die Gläser gefüllt, stieß er mit mir an. „Dem Todten, den wir heute begruben,“ sagte er, „möge ihm die Erde leicht sein!“ Und langsam und andächtig trank er das Glas leer; dann blickte er starr in den Garten hinaus, lange Zeit, ohne zu sprechen.

„Sehen Sie,“ begann er endlich, „da wird nun kein Mund im Städtchen sein, der nicht irgend eine Vermuthung ausspricht, warum dieser Mann aus der Welt gegangen. Es wird viel Blödsinniges behauptet, viel Schimpfliches erfunden werden, das den Armen noch unter seinem stillen Hügel empören könnte, wenn ihm nicht Menschenwitz und Menschenwort zu wesenlos erscheinen müßten jetzt, und wenn anders er es noch erfährt, was man auf dieser Welt von ihm sagt. Aber mich empört es, dieses Fragen, Flüstern, Zweifeln, – und deshalb trat ich heute an seine Gruft. Der Mann hat schwer gekämpft, dachte ich, nein, – ich weiß es sogar, obgleich ich ihn nicht näher gekannt, in keinerlei Beziehung zu ihm gestanden habe. Sie, Herr Baumeister, waren ja sein Freund.“ Er zögerte einen Augenblick. „Ist Ihnen nie eine Ahnung gekommen, warum er –?“

„Nein!“ gab ich rasch zurück, einen Augenblick durch den Gedanken verlegt, daß der alte Herr mich vielleicht zu dem Zwecke eingeladen habe, mich auszufragen; „er lebte, wie ich bereits bemerkte, in geordneten, sogar recht guten Verhältnissen – es ist mir ein Räthsel –“ schloß ich dann.

„In geordneten Verhältnissen!“ wiederholte er leise. „Ja, Sie sagten es schon; – aber darf ich Ihnen einmal meine Behauptung von vorhin illustriren und somit beweisen, daß man auch in den sogenannten ‚geordnetsten Verhältnissen‘ soweit – nun ja, soweit – kommen kann? Denn daß im letzten Augenblicke noch ein rettender Zufall – das ist ja Nebensache.“

Ich bot ihm schweigend die Hand, und er begann, sich in den Sessel zurücklehnend:

„Droben auf dem Obermarkte unseres Städtchens, dem Rathhause vis-à-vis und just neben der Löwenapotheke, liegt der Schauplatz meiner Geschichte. Seit langen Jahren ist in dem stattlichen Hause ein sogenanntes Schnittwaarengeschäft betrieben worden; die Goldene Elle heißt es noch heute, und es mag auch, mit Ausnahme des modernen größeren Ladens und der entsprechenden Spiegelscheiben, noch genau so aussehen wie vor nahezu hundert Jahren, da einer meiner Vorfahren seinen Kram darinnen aufgethan.

Dort wurde ich geboren, so um die Weihnachtszeit des Jahres 1815. Zwei Kinder hatten schon vor mir das Licht der Welt erblickt, der Bruder Friedrich und meine Schwester Emilie. Die Mutter hat mir später einmal erzählt, ich sei ihr recht unpaß gekommen, denn gerade in der Weihnachtszeit sei sie so nöthig gewesen drunten im Geschäfte, und sie habe mit einer solchen Unruhe da oben neben meiner Wiege gelegen, daß sie sich gar nicht so recht über das kleine schreiende Hinderniß habe freuen können.

Nun, und mit diesen Worten war das Motto gegeben für unser gegenseitiges Verhältniß sie hat sich nie so recht über – mich freuen können.

Sie war eine energische, immer thätige Frau, die, wie man so sagt, die ganze Wirthschaft gründlich unter der Fuchtel hielt, den Vater nicht ausgenommen. Er hatte sie sich aus Erfurt heimgeholt, und zwar gegen den Willen seiner Familie, denn sie war eines preußischen Feldwebels Tochter, und schwer mußte sie sich ihr Terrain in unserer stolzen Sippe, zu welcher der Bürgermeister und zwei Rathsherren gehörten, erst erkämpfen. Aber sie war eine Soldatentochter, in schwerer Zeit herangewachsen, und es dauerte nicht gar zu lange, da hatte man der resoluten, tüchtigen, allzeit gesprächigen Frau den ihr gebührenden Platz eingeräumt, und sie saß so fest und mit einer so stattlichen Würde darauf, wie nur eine Honoratiorentochter unserer Stadt es gethan haben könnte.

Unter ihrer Leitung bekam das Geschäft einen großen Aufschwung; sie sorgte, daß modische Sachen auf Lager waren, daß nur streng reelle Waare verkauft wurde, und sie hatte eine Art, mit den Kunden umzugehen, daß den Leuten das Herz im Leibe lachte und Jeder von ihr bedient sein wollte. Wie sie so dastand hinter dem Ladentische, den Stoff zu schönen Falten gerafft in der hochgehaltenen Linken, mit der rechten Hand an dem Gewebe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 818. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_818.jpg&oldid=- (Version vom 18.12.2022)