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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Nunmehr machte die Chausseelinie eine weite Schwenkung nach rechts, und da trat allmählich das ruinengeschmückte, kleine Wiesen- und Garteneiland aus dem Waldschatten hervor. – Dort lag das aus Bruchsteinen erbaute enge Haus, das einst der Brandfackel der rebellischen Bauern tapfer widerstanden, das Gemäuer rauh und rauchgeschwärzt und von einem Netz frischer Mörteladern förmlich übersponnen. Ein Adelssitz war das freilich nicht, und die grauen Röcke der in die Kirchenruinen zurückgedrängten Eulenbrut hatten jedenfalls immer besser hineingepaßt als lange Hofdamenschleppen. Immerhin! Es war trotz alledem ein gemüthliches Nest für genügsame Menschenkinder; es lag mitten im schwellenden Grün, und seine neuen Fenster mit ihren sauberen Rollgardinen saßen in der uralten Physiognomie wie junge, blanke Augen.

„Just in der allerschönsten Zeit, gnädiges Fräulein!“ sagte Heinemann, den Wagenschlag öffnend. „Die Beete noch dick voll Narcissen und Tulipanen und die Bauernrosen mit Köpfen zum Aufplatzen; und dazu laufen die Kinder schon mit Maiblumensträußchen im Walde ’rum!“

Er war bei Herankommen des Wagens bis auf die Chaussee herausgelaufen. Barhäuptig, den vollen, heißen Nachmittagssonnenschein auf seinem starren, graugelben Haarwust, half er den Ankommenden beim Aussteigen.

„Ja gelt, da riecht’s gut, kleines Fräulein?“ lachte er, indem er die kleine Elisabeth aus dem Wagen hob und für einen Moment auf dem Arm behielt. Das Kind sog mit sichtlichem Wohlbehagen die herüberwehende Luft ein. „Alles eitel Duft, Alles ein Blühen, wohin der Mensch guckt, Kindchen! Ja, der liebe Herrgott meint es gar gut mit dem alten Heinemann!“

Er hatte Recht. Ein wahres Gewoge von Narcissendüften und dem berauschenden Odem aus tausendfältigen Kelchen des persischen Flieders erfüllte die Luft.

„Wollen wir nun zu Fräulein Lindenmeyer gehen?“ fragte er die Kleine mit lustigem Augenzwinkern und einem breiten Schmunzeln um den dicken, strohernen Schnurrbart. „Dort steht sie mit ihrem allerschönsten Bandwerk auf dem Kopfe! Hat den ganzen Morgen Kuchen eingemengt und kein einziges Ei im Hause heil und ganz gelassen.“

Claudine ging lächelnd an ihm vorüber nach der Thür im Stacketenzaun, wo zwischen zwei den Eingang flankirenden Eibenbäumchen der altmodische Kopfputz von granatrothen Bändern auf Fräulein Lindenmeyer’s grauen Scheitelpuffen sichtbar wurde.

Dieses gute, alte Mädchen hatte bei dergleichen Gelegenheiten stets ein feierliches Citat aus Schiller oder Goethe in Bereitschaft. Heute aber zitterten ihre eingefallenen Lippen im Ringen mit der inneren Bewegung – kam doch der schöne, edle Mann da, ihr Stolz, der ehemalige Herr auf dem schönsten Gute weit und breit, und suchte Zuflucht – im Eulenhaus!

Aber er nahm heiter gelassen ihre bebende kleine Rechte, die eben das Batisttüchelchen an die geängstigten nassen Augen drücken wollte, mit warmem Druck zwischen seine Hände.

„Ich möchte wissen, ob Fräulein Lindenmeyer mich immer noch so gut versteht und vertritt wie einst, wenn es galt, dem blöden Jungen etwas Gutes bei der Großmama zu erwirken?“ sagte er in sanft scherzendem Ton, wobei er sich tief bückte, um in ihr Gesicht zu sehen.

Da strahlten ihre Augen auf. „Ei, nun ja, ich denke doch!“ antwortete sie wie verschämt und doch mit triumphirender Bestimmtheit. „Die Glockenstube ist hergerichtet! – Ach ja, himmlisch schön ist’s da oben! Ein richtiges Poetenwinkelchen! Welche fühlende Seele sollte das nicht verstehen?“

Er lächelte und drückte nochmals ihre Hand, während sein aufleuchtender Blick über den Garten hinflog. Dem südlichen Portal der Kirchenruine entgegengesetzt und in gleicher Frontstellung mit dem ehemaligen Sprachhaus, wenn auch ziemlich weit abgerückt, erhob sich der Glockenthurm der Klosterkirche. Brand, Sturm und Wetter hatten den einst hoch und spitz in den Himmel hineinragenden, stolzen Bau allmählich zum stumpfen Thurm degradirt. Bis zur Glockenstube herab war er zerfallen gewesen, bis die aufbessernde Hand des Maurers der Verwüstung Einhalt geboten. Die verstorbene Besitzerin hatte Thurm und Wohnhaus durch einen kleinen Zwischenbau verbunden, der im Erdgeschoß zu einem Winteraufenthalt der Pflanzen eingerichtet war, im oberen Stock aber eine auf beiden freien Seiten von einem Geländer eingefaßte Plattform bildete, zu welcher sowohl von den Zimmern des Wohnhauses wie der gegenüberliegenden unteren Thurmstube Glasthüren führten. Ueber Alles hinweg aber blinkten hoch oben die Fenster der Glockenstube, die ihren Namen behalten hatte.

Und nun hinein in den letzten Zufluchtsort der Verarmten!

Während Heinemann Koffer und Korb vom Wagen hob, schritten die Anderen dem Hause zu. Einen Moment blieb Claudine allein vor der Hausthür stehen; sie bog sich zur Seite, anscheinend um den Duft einer ihre Schulter streifenden Syringenblüthe einzuathmen, aber ihre Gedanken irrten weit ab … Ueber diese Schwelle war sie vor drei Jahren hinausgegangen in eine Welt voll Glanz und rauschender Freuden. Sie war auf Großmamas Wunsch und Fürbitte hin Hofdame bei der Herzogin-Wittwe geworden. Leicht war es ihr nicht geworden, diese Stellung, die vielbeneidete, wieder aufzugeben – nein, wahrlich nicht! – Ihr abwesender Blick umschleierte sich und die Lippen zuckten. Sie war der ausgesprochene Liebling ihrer hohen Herrin gewesen und die edle Frau hatte sie insgeheim vor ihren Neidern und stillen Feinden zu schützen gewußt; so hatte sie fast nur die strahlende Seite des Hoflebens kennen gelernt. Nun lag das hinter ihr auf Nimmerwiederkehr, und ein tiefes Sehnsuchtsweh nach der milden, sanften Greisin, der sie gedient, brannte ihr jetzt schon im Herzen … Und leicht war es wohl auch nicht, das neue Leben, das sie sich vorgeschrieben. Dem Kinde ihres Bruders eine treue Mutter zu sein, für ihn die Lebenssorgen auf die Schultern zu nehmen und mit jedem Pfennig ängstlich zu rechnen, auf daß nicht doch die Noth durch das Eulenhaus schleiche – das wollte sie wagen, sie, die Unwissende, die Unerfahrene in alle dem, was des Lebens Nahrung und Nothdurft erheischte? – Aber mußte es nicht sein, wie ja auch ihr rasches Scheiden vom Hof hatte sein müssen?

Sie legte die Hand auf das ängstlich klopfende Herz und schritt langsam über die Schwelle und die enge, aber blüthenweiß gescheuerte Holztreppe hinauf. Als sie aber in das zunächst liegende ehemalige Wohnzimmer der Großmama trat, da athmete sie tief und erleichtert auf und sagte sich, daß es sündhafte Charakterschwäche sei, hier den Muth sinken zu lassen, hier, wo die stille genügsame Lebensführung einer milden und doch energischen Frauenseele aus jedem Stück der Einrichtung sprach, wo die lieben, alten Bilder guter Menschen traulich von den Wänden grüßten … Am Hofe hatten freilich deckenhohe Spiegel und Seidentapeten die Wände ihres Salons geschmückt; ihr Fuß war tief in den sammetweichen Teppich eingesunken, und ein reichgeschnitzter Baldachin mit niederrauschenden Seidenvorhängen hatte ihre Lagerstätte im anstoßenden Zimmer beschirmt. Aber dieselben venetianischen Glasflächen hatten schon die Gestalt ihrer Vorgängerin zurückgeworfen, derselbe Baldachin ihren Schlaf behütet und in den nächsten Tagen zog schon eine Nachfolgerin in dieselben schönen Räume – sie waren ja nur geliehen. Das aber, wo sie jetzt stand und Hut und Reisemantel ablegte, um dazubleiben, das war ihr Eigenthum, ihr Heim mit den einfachen, bequemen Möbeln, dem altväterischen Bücherschrein und dem unmodernen Geschirrschrank, der das Zinn und Porcellan der Großmama enthielt. Die kleine Elisabeth kam ihr mit einem Stück Kuchen in der Hand freudestrahlend entgegen; auf dem Sofatisch dampfte Großmamas messingene Kaffeemaschine; die Thür nach der Plattform des Zwischenbaues stand weit offen und ließ die Blumendüfte des Gartens hereinströmen, und jenseit dieser nur wenige Schritte langen Plattform sah man durch die schmale Glasthür in das untere Thurmzimmer, ihr ehemaliges Logirstübchen während der Institutsferien, die sie stets bei der Großmama verlebt hatte. Mehr aber noch als dieses traute Wiedersehen beruhigte und ermuthigte sie ein Blick auf ihren Bruder. Er hatte sich so elastisch aufgerichtet, als habe er eine Centnerlast von sich geworfen, und als sie später mit ihm hinaufging in die Glockenstube und er sein Manuskript auf die Wachstuchdecke eines einfachen Tisches am Fenster legte, da sagte er: „Es ist ein abgebrauchtes Bild, aber sein zutreffender Sinn bewegt mich tief in diesem Augenblick – mir ist zu Muthe wie Einem, der nach stürmischer Meerfahrt den Heimathboden betritt und niedersinken möchte, um ihn dankbar zu küssen!“



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_023.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)