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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Fortschritte gemacht hat, daß die polychrome Plastik, die uns heute gezeigt wird, nicht im mindesten erfreulicher erscheint als die ähnlichen Leistungen der verflossenen Jahrzehnte, beweist am besten, wie hinfällig diese Forderung und wie fremd sie unserem Geschmacke und unserem künstlerischen Gewissen ist.

Man muß jedoch im Auge behalten, daß diese Forderung nicht von den Künstlern selbst, sondern von wissenschaftlicher Seite ausging. Anfänglich hieß die Frage: „Haben die Alten ihre Statuen bemalt?“ und erst die pedantische Ehrfurcht einiger formenblinder Theoretiker vor allem, was klassisch heißt, machte später die Frage daraus: „Sollen wir unsere Statuen bemalen?“ In Deutschland war es allerdings Gottfried Semper, der 1834 diese Frage in Fluß brachte; allein so begeistert der geniale Architekt auch für die Polychromie eintrat, so nötigte ihm seine richtige Empfindung dennoch das Geständniß ab: „Die Renaissance habe den Irrthum, die antike Skulptur farblos zu sehen, auf eine Weise verdaut und verarbeitet, daß aus dieser Auffassung eine im hohen Grade selbstberechtigte Kunst hervorging.“ Wie ernst es ihm mit diesem Urtheil war, ist wohl am besten daraus ersichtlich, daß Semper es sich bei keinem seiner zahlreichen, mit plastischem Schmuck üppig ausgestatteten Bauwerke einfallen ließ, farbige Skulpturen, wenn auch nur ganz vereinzelt, anzubringen.

Uebrigens ist es noch sehr zweifelhaft, ob es wirklich ein Irrthum war, wenn die Renaissance die antike Skulptur farblos sah. Franz Kugler’s Einschränkungen der Semper’schen Ergebnisse sind, sofern sie nicht die Baukunst betreffen, in der Hauptsache bis zum heutigen Tage vollkommen zutreffend geblieben, was auch seitdem an großen Namen und klingenden Citaten dagegen ins Treffen geführt worden ist. Die modernen Polychromisten thun allerdings, als ob die Plastik der Griechen nur ein Zweig der Malerei und ein nicht ganz bemaltes Bildwerk in Hellas undenkbar gewesen wäre. Waren der olympische Jupiter und die andern Goldelfenbeinfiguren des Alterthums nicht farbig? fragen sie. Zeigten sich nicht auf vielen Ausgrabungen deutliche Farbenspuren? Wissen wir nicht aus schriftlichen Zeugnissen von den polychromen Statuen des Phidias, des Skopas, des Polyklet? Hat Praxiteles nicht ausdrücklich erklärt, daß seine schönsten Werke von Nikias bemalt wurden? – Nun, gut denn, ja; aber selbst wenn all diese – zumeist hypothetischen – Argumente nicht großer Voreingenommenheit bedurften, um für stichhaltig zu gelten, was können sie uns beweisen? Daß auch wir unsere Statuen bemalen sollen? Daß auch wir die Marmorwerke Rauch’s, Dannecker’s, Rietschel’s, Schaper’s, die Grazien Thorwaldsen’s und den Theseus Canova’s anstreichen und fortan unsern Nationalhelden kein Denkmal ohne farbige Achselklappen oder bunte Gewandung setzen dürfen? Oder daß wir – um ein bestimmtes Beispiel zu wählen – uns beeilen müssen, einer Forderung des Dresdener Archäologen Georg Treu gemäß der Venus von Milo ein rosiges Inkarnat zu geben? Denn auf die großen monumentalen Werke und nicht auf die genrehafte Kleinplastik, die so längst farbig ist und es stets war, zielen unsere Polychromisten ab. Allein ihnen folgen, hieße nicht nur unserem Gefühle Gewalt anthun und unsern Geschmack herabdrücken; es hieße auch unsere ganze künstlerische Entwickelung, also das der modernen Kunt zu Grunde liegende historische Element verleugnen.

Für die Frage: sollen wir unsere Statuen bemalen? ist nämlich nicht unsere plastische, sondern unsere malerische Auffassung maßgebend. Für diese jedoch haben die Griechen, die in der Bildhauerei unsere Muster und Meister sind, gar nichts gethan. Sie sahen die Farbe mit den Augen der Orientalen an, von denen sie auch ihre Kunstübung überkommen hatten. Was wir von antiken Gemälden kennen, zeichnet sich durch einen hohen Adel des Umrisses, der Zeichnung aus; die eigentliche Malerei aber blieb, so viel wir wissen, an dem Lokalton haften, das heißt an der Farbe, welche jedem Gegenstande für sich eigentümlich ist. Es ist dies der Standpunkt einer naiven, direkt die Sache angreifenden Kunstthätigkeit, der auch noch für das ganze Mittelalter Gültigkeit besaß, aber durch unsere Art des malerischen Sehens total überwunden erscheint. Wir sind von der Illuminirung zum Kolorit fortgeschritten, und diesen Fortschritt danken wir der Hochrenaissance, danken wir Tizian, vor allem jedoch dem Wirken Correggio’s und Rembrandt’s, deren Behandlung des Helldunkels und der Luftperspektive eine gesetzeskräftige Offenbarung für die moderne Kunst geworden ist. Von diesen Meistern haben wir gelernt, daß es in der Natur keine absoluten Farbenwerthe giebt und daß man eine Gestalt nicht richtig malen kann, ohne auch die Luft zu malen, die sie umweht, ohne sie auf einen bestimmten Hintergrund zu stimmen und das optische Spiel der wechselnden Beleuchtung darzustellen. Diese Erkenntniß ist ein Grundelement unseres Kunstempfindens geworden, und ihr muß jedes Kunstwerk, sofern es nicht monochrom ist, sich anschmiegen. Eine bemalte Statue, welcher Art immer, vermag dies nicht, sei sie nun realistisch oder idealistisch gehalten; sie kann nach modernen Anschauungen niemals gemalt, sondern bestenfalls nur gefärbt sein, und das ist unserem Auge ein Gräuel, den es einer archäologischen Schrulle zu Liebe nicht zu ertragen bemüßigt ist.

Die gelehrten Verfechter der Polychromie wollen es freilich nicht Wort haben, daß sie für eine archäologische Schrulle kämpfen, und darum weisen sie mit Genugthuung auf die bemalten Büsten und Statuetten der Frührenaissance hin. Diese Werke sind jedoch bis auf wenige verschwindende Ausnahmen aus Holz, Thon oder Gyps verfertigt, können also eben so wenig für die Bemalung des Marmors sprechen wie die glasirten Terrakotten des Luca und Andrea della Robbia, die ja ihren festen Platz in der Kunstgeschichte behaupten und nicht erst von einer Reformpartei entdeckt werden müssen. Allein selbst wenn es Marmorwerke monumentalen Charakters wären, genügte wohl die Thatsache, daß jene Meister, welche die Kunst auf den höchsten Gipfel emporgeführt haben, daß Lionardo, Rafael, Michelangelo – von den Größen zweiten Ranges zu schweigen – der Tradition zum Trotz niemals auf den Gedanken kamen, ein Bildwerk farbig auszustatten, obschon sie gleichzeitig Maler und Bildhauer waren und die Technik sowie die Wirkungsmittel beider Künste in gleichem Maße kannten und beherrschten.

Diese Thatsache kennzeichnet am besten die Stellung der Renaissance, deren Meister, bewußt oder unbewußt, von der Ueberzeugung geleitet waren, daß jedes Kunstwerk nur eine Abstraktion der Natur, eine Fiktion ist. Die Malerei darf ihren Gestaltungen den vollen Schein des Lebens verleihen, weil eben die Körperlichkeit derselben eine fiktive ist, in der Plastik ist das Umgekehrte der Fall, und darum empfängt sie durch die Farbe nicht eine „höhere Realität“ – wie die Polychromisten meinen – sondern ganz im Gegentheile den Ausdruck des Starren, Maskenhaften der Figuren in den Jahrmarktsbuden. Die „Ausstellung farbiger und getönter Bildwerke“, welche im Herbste 1885 in der Berliner Nationalgalerie stattfand, mußte Jedermann darüber belehren, sofern ihm das nicht von vornherein klar war. Hier war eine Reihe von Versuchen auf Marmor und Gyps zur Anschauung gebracht, und der Vergleich dieser Leistungen mit den daneben befindlichen weißen Originalen war vollkommen geeignet, unsere Künstler vor weiteren fruchtlosen Experimenten zu warnen.

Das Publikum wird sich allerdings noch geraume Zeit mit diesem Problem beschäftigen, da die Vorkämpfer der farbigen Skulptur nicht unterlassen haben, auf die Wichtigkeit ihrer Theorie für die stilgemäße Ausstattung unserer Wohnräume nachdrücklich aufmerksam zu machen. Der dekorative Zug, der die Kunstthätigkeit der Gegenwart kennzeichnet und dem modernen Kunstgewerbe tatsächlich zu einem hohen Aufschwunge verholfen hat, macht alle derartigen „Stilaufgaben“ populär. Allein wenn man auch den Werth anerkennt, der in der ästhetischen Gestaltung unseres Heimwesens, in der Freude am kunstvollen Schmuck des Hauses liegt, so bleibt es immerhin sehr fraglich, ob es gestattet ist, auch an die großen und monumentalen Gebilde der schöpferischen Phantasie rein dekorative Maßstäbe anzulegen. Wenigstens hat sich bisher Niemand der Ketzerei unterfangen, die Sixtinische Madonna oder Dürer’s „Vier Temperamente“ auf ihre Wirkung gegenüber einem geschnitzten Buffet Louis XV. anzusehen. Mit der Plastik springt man jedoch weit weniger respektvoll um. Die weiße Masse des Marmors oder des Gypses, heißt es, zerreißt die Harmonie jedes stimmungsvollen Interieurs, und aus diesem Grunde hat man auch schon überall die weißen Oefen durch grüne oder bunt glasirte ersetzt. Das ist jedenfalls löblich und gut, soweit es die Oefen betrifft. Aber wenn die Venus von Milo durchaus nicht in den gräflichen Salon oder in das Arbeitszimmer des Kommerzienrathes passen will, so folgt daraus keineswegs, daß man dieselbe bepinseln und beklecksen, sondern nur, daß man sie nicht hineinstellen soll. Die Kunstgeschichte ist kein Möbelmagazin.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_050.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)