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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

nicht nur im Centrum des Erschütterungsgebietes gefühlt werden, den Tag des stärksten derselben zu beachten, was keine Schwierigkeit verursacht, da die Ausbreitung der Stoßwellen, d. i. die Entfernung, bis zu welcher die Erschütterung noch verspürt wurde, eine unzweideutige Schätzung der relativen Stärke dieser Stöße ermöglicht. Gewöhnlich charakterisirt sich diese sekundäre Wiederholung der Katastrophe in den Zeitungsnachrichten durch den Ausdruck „neue Panik“; allein es ist kein einziger Fall bekannt, daß dieselbe die Stärke oder mit anderen Worten die Ausdehnung des ersten oder Katastrophenstoßes auch nur annähernd erreicht hätte. Man ist daher berechtigt, als zweite Regel hinzustellen: „In einer und derselben Erdbebenreihe tritt im Centrum oder in seiner Nähe eine zweite Katastrophe nicht ein.“

Auf diese beiden Erdbebengesetze – den Typus der Reihe – legt der Verfasser ein um so größeres Gewicht, als sie der Beachtung der Forscher bisher entgangen waren.

Es stellt sich ferner heraus, daß die heftigsten aller Sekundärstöße sich nahe an dem Tage ereignen, an welchem die größte Fluthanziehung des Mondes nach der Katastrophe eintritt. So geschah es, um nur einige Beispiele aus neuerer Zeit anzuführen, bei dem Erdbeben im Visperthale (1855) am 24. September, 27. Oktober, letzteres drei Tage nach einer Mondfinsterniß, und 12. November, drei Tage nach einer Sonnenfinsterniß, und gleichzeitig mit der Erdbebenkatastrophe in Yeddo, bei welcher 30 000 Menschen ums Leben kamen. So geschah es auch bei den Erdbeben von Belluno (1873) am 8. August und 25. Dezember; so bei dem Erdbeben von Tarapaca (1878) am 20. Februar, drei Tage nach einer Mondfinsterniß; so in Agram (1880) am 16. Dezember, gleichzeitig mit einer Mondfinsterniß; so in Andalusien (1885) am 27. Februar; so in Kindberg (1885) am 22. September, zwei Tage vor einer Mondfinsterniß; so in Charleston (1887) am 7.Februar, einen Tag nach einer Mondfinsterniß; so an der Riviera (1887) am 11. März; so in Werny (1887) am 20. Juni und 22. August, letzteres drei Tage nach einer Sonnenfinsterniß.

c) Die örtliche Vertheilung der Erdbeben.

Es ist eine unbestrittene Thatsache, daß bei weitem die meisten und stärksten Erdbeben

1) in der Nähe thätiger oder erloschener Vulkane,
2) im Gebiete der größten Gebirgsketten auftreten.

Aeußerlich ließe sich darauf eine Eintheilung in vulkanische und nicht vulkanische Erderschütterungen gründen; allein auf die Ursache derselben darf man von vornherein eine solche Unterscheidung nicht ausdehnen, aus dem einfachen Gründe, weil die im Laufe der Jahrtausende von sedimentären Schichten überlagerten und eingebetteten Vulkane sich auch unter Oertlichkeiten finden können, welche jeder botanischen Spur an der Oberfläche ermangeln.

d) Die zeitliche Vertheilung der Erdbeben.

Es ist bereits vor dreißig Jahren von dem französischen Gelehrten Alexis Perrey in Dijon der Nachweis geliefert worden, daß die Erderschütterungen häufiger eintreten

a) zur Zeit der Erdnähe des Mondes,
b) zur Zeit der Syzygien (Voll- und Neumond),
c) im Winterhalbjahre.

Unabhängig davon fand der Verfasser vor zwanzig Jahren, daß die meisten und stärksten Erdbeben eintreten in unmittelbarer Nähe jener Tage, an welchen sich die meisten Fluthfaktoren, d. h. jene Stellungen der Sonne und des Mondes, welche eine erhöhte Fluthanziehung bewirken, zusammenfinden.

Diese Fluthfaktoren sind.

die Erdnähe und der Aequatorstand des Mondes;
die Erdnähe und der Aequatorstand der Sonne;
Voll- oder Neumond (Syzygium);
Finsternisse des Mondes und der Sonne.

Ferner fand der Verfasser durch eine genaue Zählung der in dem Erdbebenkataloge von Robert Mallet verzeichneten Fälle vom Jahre 800 n. Chr. bis 1843, daß sich in diesem Zeitraume an 5492 Tagen Erdbeben ereigneten, von welchen die meisten auf den Januar, April und Oktober, die wenigsten auf den Juli und August fielen Später hat auf Anregung des Verfassers auch Dr. Julius Schmidt, Direktor der Sternwarte zu Athen, über die Beziehungen der Häufigkeit der Erdbeben zu den Stellungen der Sonne und des Mondes Untersuchungen angestellt, aus welchen sich neuerdings ergab, daß die Erdbeben häufiger sind in der Erdnähe des Mondes als in seiner Erdferne, häufiger zur Zeit des Neumondes als um das erste Viertel und häufiger zur Zeit des Vollmondes als um das letzte Viertel. Am genauesten jedoch trifft sein Resultat über die Vertheilung im Laufe des Jahres mit den Untersuchungen des Verfassers zusammen. Er findet ein Maximum im Januar, März und Oktober, und ein Minimum anfangs Juli; also die größte Häufigkeit zur Zeit der Erdnähe und Aequatorstellung, die geringste zur Zeit der Erdferne der Sonne, welche bekanntlich am 1. Juli eintritt. Dasselbe Gesetz der Vertheilung im Laufe des Jahres fand der Verfasser dann wenigstens angedeutet mit einem Maximum im Januar und Oktober in den Aufzeichnungen der Erdbeben von Copiapo in Chile, und dann noch in den Erdbeben der Schweiz überhaupt, des Kantons Wallis im besonderen, ja sogar auch in der Erdbebenchronik der Stadt Basel. Es ist daher über die Gesetzmäßigkeit dieses Verhaltens wohl kein Zweifel mehr gestattet.

Da die Sonne am 21. März und 23. September im Aequator steht, wobei sie ihre größte Fluthanziehung ausübt, so wird sich das Zusammentreffen wirksamer Mondstellungen zur Zeit der Aequinoktien, unterstützt durch die Sonne, am meisten fühlbar machen.

Schlußfolgerungen. – Theorie der Erdbeben.

Indem wir nun alle diese Thatsachen zusammenfassen, gelangen wir zu folgendem Ergebniß: die Vertheilung der Erdbeben im allgemeinen und der Verlauf der sekundären Erschütterungen im besonderen, sowohl nach den Stellungen des Mondes zur Erde und Sonne, als auch nach den Stellungen der Sonne zur Erde, beweist exakt und zur Genüge, daß es sich hier um ein Fluthphänomen handelt, was wohl auch schon Perrey vermuthungsweise ausgesprochen, ohne, wie er selbst gesteht, eine physikalische Lösung der Frage durchgeführt oder mit andern Worten eine Theorie begründet zu haben. Eine solche besteht eben nicht bloß in einer wissenschaftlichen Hypothese, sondern in der Zusammenstellung aller beobachteten Thatsachen und in der Prüfung der Hypothese auf Grund derselben. Eine Hypothese ist eine einfache Annahme, eine Theorie jedoch ein nach den Regeln der Logik und unter steter Bezugnahme auf die Thatsachen aufgeführtes Lehrgebäude, bei welchem sich alle einzelnen Theile harmonisch zum Ganzen fügen. Daß es dem Verfasser möglich wurde, ein solches Gebäude zu errichten, verdankt er einerseits der strengkonsequenten Anwendung der Fluththeorie auf das Phänomen der Erdbeben, und andrerseits der Beachtung aller Thatsachen und insbesondere der bisher unbeachtet gebliebenen beiden Erdbebengesetze: „Jede Katastrophe wird von einer Reihe von Erschütterungen gefolgt“ und: „Keiner der folgenden Stöße erreicht die Stärke des Katastrophenstoßes.“

Wenn die Erdbeben in ihrer Häufigkeit und Stärke sich nach den theoretischen Fluthanziehungen von Mond und Sonne richten, so entsteht zunächst die Frage: was ist hier die fluthende Materie und wie hängt die mechanische Erschütterung des Erdbodens mit derselben zusammen?

Hält man das Erdinnere theilweise noch für zähflüssig und bringt die Lava damit in Verbindung, so läge es nahe, nach Analogie des Oceans, eine im Innern der Erde sich bildende Fluthwelle anzunehmen, welche zur Zeit der Springfluthen an die feste Erdrinde anschlägt und dadurch deren Erschütterungen hervorruft. Diese Auffassung, welcher sich Perrey hinneigte und die anfänglich auch wir in Betracht zogen, erwies sich jedoch sofort als unhaltbar, wenn man den Typus des Stoßes einer Katastrophe und den weiteren Verlauf der Erschütterungen nach derselben sorgfältig beachtet. Eine unter der Erdrinde dahinwandernde Lavawelle würde bei ihrem Anschlagen an dieselbe jedesmal das Zerstörungsgebiet weniger in Form eines kreisähnlich begrenzten Centrums, als in Gestalt einer von Ost nach West laufenden, breiten Zone erscheinen lassen und die nach der Katastrophe sich so ausschließlich auf das Centrum beschränkenden sekundären Stöße auf keine Weise zu erklären im Stande sein. Den Verfasser wies in dieser Frage der Ausbruch des Aetna, in dessen Erwartung für den 27. August 1874 er den ganzen Monat in Sizilien zubrachte, als derselbe den 29. August tatsächlich stattfand, auf die richtige Fährte. Es traten nämlich 27 Stunden nach dem Ausbruche

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_247.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)