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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Der rosa Schein der leise schwankenden Ampel erhellte nur matt das Gemach. Zunächst sah Claudine nichts als den großen weichen Spielteppich der Kleinen mit durch einander geworfenen Puppen und anderem Spielzeug, und das leere Bettchen, dessen Vorhänge weit zurückgeschlagen waren. Das Zimmer schien völlig verlassen; das Weinen war verstummt, nichts rührte sich. – Claudinens Blicke forschten umher, dann trat sie einen Schritt näher und ihre Augen wurden starr vor Entsetzen. Dort – im weit geöffneten Fenster, nicht mehr auf der inneren Fensterbank, nein, auf der Steinbrüstung außen kauerte das Kind! Sein langes Nachtkleid hatte sich hindernd um die Beinchen gewickelt; die Angst mochte es wohl plötzlich erfaßt haben; es saß da ganz frei, den Rücken nach der Tiefe gewendet, und starrte mit seinen thränenerfüllten Augen die unerwartete Erscheinung der fremden Dame an. Die geringste Bewegung, und das Kind mußte hinunter stürzen.

Athemlos stand das junge Mädchen einen Augenblick, kaum die Seide ihres Kleides knisterte; blitzschnell kreuzten sich die Gedanken hinter ihrer Stirn. Würde das Kind erschrecken, wenn sie näher trat? „Barmherziger Gott, hilf mir!“ flüsterte sie.

Ueber ihr starres Gesicht glitt plötzlich ein Lächeln, sie hatte mit raschem Griff ihr Armband abgenommen und drehte es spielend und lockend hin und her, während sie einen Schritt vorwärts that – und noch einen und noch einen. Jetzt erfaßte sie das lange Kleidchen, ein schwacher Schrei entrang sich – der kleine Körper schlug rückwärts, aber kraftvoll griff die zweite Hand nach, und im nächsten Augenblick knieete sie auf dem Teppich, das zum Tode erschreckte lautlose Kind im Schoß; die zitternden Kniee hatten ihr den Dienst versagt, halb ohnmächtig sank ihr Kopf gegen den Pfeiler eines Spiegeltisches, während ihre blauen großen Augen wie erloschen aus dem kreideweißen Antlitz blickten.

Es knieete jemand neben ihr, genau so erschreckt, so blaß, so zitternd; zwei heiße Lippen preßten sich aus ihre Hände und auf des Kindes Gesichtchen.

„Lothar!“ murmelte sie und strebte zitternd empor.

Er nahm ihr das Kind vom Schoß, trug es ins Bettchen und trat dann zu ihr, die hoch aufgerichtet dort stand und nun mit schnellen Schritten an ihm vorüber strebte.

„Claudine!“ scholl es bebend, und seine Gestalt vertrat ihr den Weg.

„Es war beinahe zu spät,“ sagte sie und versuchte zu lächeln, aber fast verzerrte sich noch ihr entfärbtes Gesicht.

Er faßte ihre Hand und führte sie zu dem Bettchen. Die Kleine saß aufrecht darin und lachte; er hob sie empor und hielt des Kindes Gesicht an die blasse Wange des Mädchens.

„Bedanke Dich!“ sagte er mit seltsam bewegter Stimme, „Dein Vater darf es nicht.“

Claudine sah, wie die Hände, die das Kind hielten, zitterten. Sie küßte flüchtig die kleine Wange.

„Ich war vorher sehr zornig auf mich,“ sprach sie kühl, „daß ich Ihre Einladung doch noch acceptirte, Vetter – ich darf es mir jetzt wohl verzeihen.“

Eine schwüle Pause entstand. Die Kleine hatte jauchzend nach dem Stern in dem blonden Haar gegriffen, Claudine mußte den Kopf neigen, um die Fäustchen zu lösen; es dauerte eine ganze Weile. Draußen flog eben mit zischendem Laut eine Rakete empor, das Zeichen für den Beginn des Soupers. Musik, Lachen, plaudernde Stimmen drangen deutlicher herauf, und ein gluthrother Schimmer brach durch die Fenster.

Sie war vor den Spiegel getreten, um die zerzausten Löckchen etwas zu ordnen. Sie sah nicht den leidenschaftlich schmerzlichen Blick der dunklen Männeraugen, die ihr folgten, wie sie nicht gesehen, daß vor ein paar Minuten in der weit geöffneten Thür eine zierliche Gestalt im blaßblauen Seidenröckchen wie hingeweht gestanden hatte, um gleich wieder zu fliehen, als sei dort etwas Entsetzliches zu erblicken gewesen in dem dämmernden Zimmer, während es doch das entzückendste Genrebild war, eines Meissonnier würdig, ein schlankes Mädchen an der Seite des Barons, der sein spielendes Kind auf den Armen hält.

„Ich werde veranlassen, daß die Wärterin kommt,“ sagte Claudine jetzt im Hinausgehen; „die kleine Unternehmungslustige möchte sonst zum zweiten Male aus dem Bettchen echappiren.“

In diesem Augenblicke erschien zwar nicht die unzuverlässige Kinderfrau, wohl aber Frau von Berg.

„Sie werden die Güte haben, Frau von Berg, an Leonies Bett zu bleiben, bis die Kinderfrau, die Sie übrigens vortrefflich instruirt zu haben scheinen, zur Stelle ist. Ich möchte nämlich nicht gern, daß die Kleine noch einmal in die Gefahr kommt, dort hinaus zu stürzen, wie sie es tatsächlich eben war.“ Er hatte das gelassen, beinahe sarkastisch gesprochen.

Claudine war rasch auf den Korridor getreten; sie konnte nicht mehr das namenlos bestürzte Gesicht der schönen Italienerin erblicken, die auf ein paar verzweiflungsvoll geflüsterte Worte der Prinzeß Helene über das befremdende Schauspiel kraft ihres Amtes einmal in der Kinderstube nachschauen wollte. Claudine schritt schon am Ende des Ganges, als Lothar sie einholte. Neben einander betraten sie die Treppe, die in die Halle führte.

Es ging wie staunende Bewunderung einen Augenblick durch alle die Menschen, die den Raum füllten oder draußen vor der Halle standen. Wie ein Bild erschien diese schöne Frauengestalt auf der reichgeschmückten Treppe in dem alten Urgroßmuttergewand.

„Magnifique! Entzückend!“ murmelte der Herzog, und sein Blick trübte sich etwas. Die Herzogin aber winkte mit ihrem Granatstrauß empor.

„Claudine,“ sagte sie, als das Mädchen vor ihr stand. „Wir haben beschlossen, mit zu losen, warum sollten der Herzog und ich nicht auch dem Zufall heute einmal vertrauen? Unsere liebenswürdige Wirthin hat noch rasch unsere Namen hineinwerfen müssen.“

Und als jetzt Komtesse Moorsleben in einem blumigen Rokokokostüm mit kokettem Knix Ihrer Hoheit die silberne Schale präsentirte, welche die goldgeränderten Zettelchen enthielt mit den Namen der Kavaliere, griff die schmale Frauenhand keck hinein und entnahm eine der kleinen Rollen. Prinzeß Thekla dankte. Die Hand der Prinzeß Helene , die einen Schritt hinter Ihrer Hoheit stand, zitterte, als sie den kleinen Zettel nahm. Es war, als ob die Komtesse absichtslos unbemerkt an Claudine vorüberschreiten wollte, aber die Herzogin berührte lächelnd die Schulter der jungen Dame mit dem Strauß, sie mußte anhalten.

„Liebste Claudine,“ sprach die fürstliche Frau, „Ihr Schicksal winkt,“ und die Angeredete ergriff nun auch eines der Zettelchen.

„Noch nicht lesen!“ sagte die Herzogin, die außerordentlich erheitert schien von diesem Spiel. Ihre großen dunklen Augen glänzten freundlich; sie stützte sich leicht auf Claudinens Arm. „Sieh, Dina,“ sagte sie leise, „mit welch neugierigen Gesichtern die Kavaliere die Damen mustern! Mich dünkt, selbst Adalbert wirft einen komisch fürchtenden Blick auf meine gute Katzenstein; wie sie drollig aussieht in dem Kostüm der Frau Rath Goethe.“

Das weiß gepuderte Köpfchen der hübschen Hofdame war hin und wieder aus der Menge aufgetaucht; jetzt hielt sie das geleerte Silberkörbchen in die Höhe und im nämlichen Momente begann die Kapelle die Ouvertüre aus dem „Sommernachtstraum“.

Die Damen sollten die ihnen durch das Los zugetheilten Herren zur Tafel führen; so war es von Prinzeß Helene bestimmt. In die weichen Töne der Musik mischte sich das Knistern der Zettelchen; Lachen, Ausrufe wurden laut.

Ihrer Hoheit Augen leuchteten. Sie hatte den Namen eines blutjungen schüchternen Lieutenants auf ihrem Zettel gefunden.

„Nun, Claudine?“ fragte sie, indem sie in das Papier der Freundin blickte. „O!“ machte sie dann – „Seine Hoheit!“

Claudine war bleich geworden, der Zettel in ihrer Hand bebte. „Eigenthümlicher Zufall!“ flüsterte eine leise Stimme hinter ihr.

Die Herzogin wandte sich langsam um und maß Prinzeß Helene mit einem kühlen Blick von oben bis unten. Aber aus ihren Augen war plötzlich die harmlose Freude gewichen. Stumm legte sie ihren Arm in den Claudinens und zog das Mädchen vorwärts durch alle die suchende, wogende Menge, die ehrerbietig zurückwich.

„Hier, mein Freund,“ sagte sie zu dem Herzog, der noch immer neben Palmer stand, „Deine Tischnachbarin, die Dir ein gütiges Geschick bestimmte. Mein Herr von Palmer, bringen Sie mir den Lieutenant von Waldhaus; er wurde mir durch das Los zugetheilt.“

Herr von Palmer flog davon. Die fürstliche Frau stand, das Antlitz lächelnd in dem Granatstrauß geborgen, neben Seiner Hoheit und Claudine. Dann kam athemlos, dunkelglühend, ein schlanker blonder Husarenoffizier und verneigte sich tief vor Ihrer Hoheit.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_264.jpg&oldid=- (Version vom 24.7.2016)