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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

dazu die ganze Hauswirthschaft – alles das war ihr Geschäft. Ebenso wenig kümmerte sich Florian um das Anlegen des Baargeldes, um Coupons oder Losrevision, um das Einkassieren und Bezahlen von Rechnungen, um Miethzins, um ordentliche oder außerordentliche Ausgaben. Das that alles Fräulein Nina. „Sagen Sie es der Tante!“ – „Fragen Sie doch einmal die Tante!“ Dies war alles, was man erreichte, wenn man doch einmal in irgend einer Angelegenheit an ihn selber gerieth.

Er saß zumeist in seiner Werkstatt, wo er abwechselnd arbeitete oder rauchte oder beides zugleich that. Er war Schildermaler und leistete in seinem Fache ganz Außerordentliches. Nicht als ob er sich sonderliche Mühe gegeben hätte – er hatte eben vom Vater und Großvater mit dem alten Geschäfte auch das scharfe Auge und die sichere Hand ererbt. Er besaß bereits vier Ausstellungsmedaillen, freilich ohne daß er sich recht klar darüber war, wie und wofür er sie erhalten hatte; Fräulein Nina hatte das aus eigene Faust vorbereitet, veranstaltet und besorgt. Indeß beschränkte sich seine Thätigkeit durchaus nicht auf die hundertfachen Schriftarten in allen Farben auf Holz, Wand, Blech, Stein mit Buchstaben von staunenswerther Plastik. Sie umfaßte außerdem Thierstücke, wie die Löwen der Seifensieder mit dem Kerzenbund in der Pranke, oder die grünen Tiger, blauen Adler, und goldenen Gänse, Lämmer, Rosse der Gasthausschilder, ferner Stillleben, worunter sich die gebratenen Gänse der kleinen Wirthsstuben im Judenviertel durch besonders appetitliche Naturtreue auszeichneten, aber auch Porträts, Genre- und Historienbilder aller Art auf den Kaufhäusern zum König von Honolulu, zum Milchmädchen, zum Napoleon bei Leipzig u. s. w.; endlich schön gelockte Herren- und Damenbrustbilder an den Friseurläden, und behaglich rauchende Türken in voller Figur an den Tabaktrafiken. Einen großartigen Eindruck machten seine übersichtlichen Kompositionen der tausend Geheimnisse eines Fragnerladens von den Frankfurter Würsten an bis zu der Schuhwichsschachtel, und ebenso jene eines Krämerladens von Kolonial- und Kurzwaaren mit dem rabenschwarzen Neger im Zuckerrohr als Mittelpunkt, den grünen Baumwollstrümpfen in einer, dem rosenrothen Mieder in der anderen Ecke. Man riß sich um seine Arbeiten, nicht nur um ihrer plastischen Darstellungsweise und ihres anlockenden Farbenzaubers willen, sondern auch schon deshalb, weil sie so schwer zu bekommen waren. Wie einst von Guido Rem Gemälde nur durch umständliche Intriguen von Kardinal-Legaten und Gesandten erlangt werden konnten, so mußte man sich hinter Fräulein Nina stecken, um überhaupt die Annahme einer Bestellung bei Florian durchzusetzen und – was noch weit größere Schwierigkeiten bot – in absehbarer Zeit die Ausführung des Bestellten zu erleben.

Florian war sehr gemächlich und arbeitete eigentlich bloß zu seiner Unterhaltung. Vermögen besaß er genug, um nicht dem Verdienst nachgehen zu müssen, und das Uebrige, die Lobpreisungen und Medaillen mit eingeschlossen, rührte ihn nicht im mindesten. Wenn er das Malen satt hatte, konnte ihn kein Mensch überreden, daß er es nicht satt habe; dazu kam noch, daß ihn eine schwere Menge anderer Beschäftigungen ernstlich in Anspruch nahm, eine krauser und wunderlicher als die andere. So verfertigte er aus Ruthen und Fichtenzapfen allerlei gänzlich unbrauchbare Tischchen, aus Rohrstäben und Draht byzantinische Paläste für seine Schnee- und Blaumeisen, aus den Schuppen der Tannenzapfen Renaissancekassetten; bei ihm sowie in den Zimmern der Tante lehnten und lagen allenthalben fragwürdige Erzeugnisse von Laubsäge-, Spritz-, Lack-, Holzschnitzarbeit herum, welche durch räthselhafte Form und Bestimmung sich in den Blick des Beschauers förmlich festhäkelten. Sobald er auch dessen satt war, machte er Musik auf einer Ziehharmonika – es war grauenhaft, aber ihm gefiel es, und da er diesen Genuß selbstsüchtig für sich allein aufsparte, so war dagegen im allgemeinen nichts weiter einzuwenden. Am Abend stellte er sich gern in die Hausthür, schlicht und zweckentsprechend in Hemdärmeln, wenn es eben warm war, rauchte seine Cigarre und zupfte von Zeit zu Zeit an dem goldenen Ohrring, welchen ihm Fräulein Nina bei einer leichten Augenröthung als Heil- und Schutzmittel aufgeredet und eigenhändig in das linke Ohr eingestochen hatte.

Nein, lustig war Florian ganz und gar nicht trotz seiner fünfundzwanzig Jahre, trotz seiner Gesundheit und riesigen Körperkraft, trotz seines ewig blauen wolkenlosen Daseins. Aber Fräulein Nina war auch zu klug, um zu glauben oder zu hoffen, daß sie in Jakobäa eine lustigere Gesellschaft finden würde. Sie war eben eine gute Seele, und das verwaiste arme brave Mädchen that ihr herzlich leid – darum nahm sie sich seiner an. Daß sie es so warm that, hing mit ihrer glühenden Leidenschaft für alles zusammen, was zu dem Theater in irgend welcher Beziehung stand. Sie kannte die Geschichte sämmtlicher Wiener Theater seit vierzig Jahren bis in die kleinsten Einzelnheiten sammt der Privatgeschichte einheimischer wie zu Gaste weilender Künstler mit deren Verwandtschaft in auf- und absteigender Linie, Finanzgebahrung, Repertoire, Koulissengeheimnisse, und selbst ein Logenmeister war ihr viel interessanter als ein Minister. Als einmal einige Tassen starken Nachmittagskaffees eine besonders vertrauliche Stimmung herbeigezaubert hatten, machte sie auch Jakobäa gegenüber leise Anspielungen, daß sie einst mit dem Theater selbst in ganz engen Beziehungen gestanden habe.

„Wie? Haben Sie selbst einmal gespielt?“ fragte Jakobäa neugierig.

„Wo denken Sie hin, Kind! Was hätte unser Vater zu so etwas gesagt? Nein aber … nun, Monsieur Demarre hatte ein Auge auf mich geworfen … er war Theaterfriseur. Er machte mir sehr den Hof, und ich hätte ihn auch geheiratet, wenn es der Vater zugelassen hätte. Ach, die schöne Zeit! “

Und dabei bedeckte sie plötzlich mit dem gestickten Taschentuch ihr Gesicht, welches bis in die schneeweißen Schläfenlöckchen hinein roth geworden war.

Nein, Jakobäa war ebenso wenig lustig wie Florian, oder sogar noch weniger, aber sie gehörte zum Theater! Sie mußte jetzt alle ihre Rollen vor Fräulein Nina einstudiren und hersagen, während diese ihren Strickbeutel neben sich liegen hatte und aufmerksam lauschend strickte oder auch das Buch in die Hand nahm, um den Souffleur abzugeben. Sie lachte und weinte, nickte und bebte, war außer sich vor Entsetzen oder zerschmolz in Rührung, sie klatschte Beifall – sie war im Theater. Dann ging sie mit Jakobäa in das wirkliche Theater, nicht um ein Uhr Mittags, sondern mit zwei vorher gekauften Karten um dreiviertel auf sieben Uhr, aber auf die billigsten Sitze, damit man sich den Genuß öfter gestatten könne. Dort saß die hagere große Gestalt mit ihren entschiedenen Hausherrnmanieren neben dem kleinen verzagten Figürchen Jakobäas, aber die vier Augen strahlten in der gleichen wunderlichen Verzückung.

Zu Florian blickte Jakobäa gleich von allem Anfang wie zu einem Götzen empor. Es war ein verehrungsstilles Bewundern, ein vergötterndes Abmessen seiner riesigen Gestalt mit den Augen, ein verzücktes Fragen des Blickes: „Wie ist es nur menschenmöglich, so herrlich groß zu sein?“ – und dann wieder das graue Schimmern des Auges. „Wie hast Du das nur angefangen? Und könnte denn nicht auch ich irgendwie … ?“ – Und mit dem eisernen Willen, der aus den Augen hervorstrahlte, ging sie jenem „irgendwie“ auch nach. So tauchte sie eines Tages im Ordinationszimmer des orthopädischen Institutes in Döbling auf. Aber man wußte nichts mit ihr anzufangen, sie war gerade und gut gewachsen, mithin kein geeignetes „Objekt“. Gleichwohl war der Gang nicht ohne Nutzen gewesen, sie hatte dort Streckbetten gesehen, Vorrichtungen, welche verkümmerte oder verkrümmte Gliedmaßen allmählich verlängern oder geraderichten sollen. Sie hatte sich deren Zweck und Anwendung erklären lassen und gedachte jetzt recht zu sparen, um sich ein solches Möbel kaufen zu können. Das war indeß ein wahrer Goldfund für Florian; er ließ den schönsten Trafiktürken stehen und verfertigte nach der eingehenden Beschreibung ein Streckbett, dessen Wandungen er mit allerlei räthselhaften und höchst unpraktischen Laubsägearbeiten aus dem Holz seiner Cigarrenkistchen verzierte. Das Ganze sah aus wie der Thron irgend eines noch sehr wilden Negerhäuptlings.

Darauf lag seitdem Jakobäa Stunden lang ausgestreckt, lesend, studirend, deklamirend. Im Konservatorium, während der Pausen zwischen den Lehrstunden reckte und streckte sich die kurze Gestalt in Uebungen, welche sie sich aus einem Handbuch für Freiturnen wohlüberdacht zusammengestellt hatte. Daheim aber hatte sie die üble Gewohnheit angenommen, die Finger so lange zu ziehen, bis die Gelenke knackten, und einmal sprach sie die Sehnsucht nach einer schweren Krankheit aus, weil sie öfters gehört hatte, daß Kranke im Bette ungewöhnlich wachsen. Aber es blieb beim Alten, sie wurde nicht größer, und Herr Haushuber überragte sie standhaft um das gleiche unmenschliche Stück; sie reichte bis an den Messingdrücker, er an den obern Rand der Hausthür.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 272. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_272.jpg&oldid=- (Version vom 6.6.2018)