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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Die Herzogin hatte sich währenddem erhoben und war hinausgeschritten. Sie fürchtete in jenes verzweifelte Lachen auszubrechen, das sie zu ersticken drohte.

„Was ist’s mit der Herzogin?“ fragte der Herzog und runzelte die Stirn, indem er den Wein austrank.

„Hoheit, ich weiß es nicht!“ erwiderte Claudine.

„Gehen Sie der Herzogin nach!“ sagte er kurz.

„Ihre Hoheit befinden sich im Schlafzimmer und wollen nicht gestört sein und wünschen, Fräulein von Gerold in einer Stunde im grünen Salon zu sehen,“ berichtete die Kammerfrau, die eben eintrat.

Claudine schritt zu einer andern Thür hinaus und begab sich nach ihrem Zimmer.

Im Schlafgemach der fürstlichen Frau waren die Vorhänge hernieder gelassen, und in dieser Dämmerung lag die Herzogin auf ihrem Ruhebette. Sie wußte Claudine mit ihm allein. – Jetzt würde er ihr die Hand küssen und sie an sich ziehen, ihr sagen: „Ertrage die Launen, mein Lieb; sie ist eine kranke Frau, ertrage sie meinetwegen!“

Und in beider Augen würde die Hoffnung schimmern auf eine bessere Zukunft, dann – wenn da unten im Gewölbe der Schloßkirche ein neuer Sarg –

Sie schauerte nicht bei diesem Gedanken, sie lächelte nur; es ist ja gut, daß man weiß, es kommt ein Ende! Ach, wieviel verschwiegenes bitteres Leid mochte sich schon zur Ruhe gelegt haben mit denen, die in den Sarkophagen dort unten schliefen!

„Es ist so tröstlich, daß es ein ‚Vergessen‘ giebt und schlaf – wenn es nur nicht so lange mehr dauert, dies Wachen, das man Leben heißt!“

Sie empfand etwas von dem vorwurfsvollen Empfinden, das einen feinfühligen Menschen ergreift, wenn er glauben muß, die Geduld anderer gar zu lange in Anspruch zu nehmen, und es doch nicht ändern kann. Dabei dieser Druck auf der Brust; es war so schwer, das Athmen.

„Wenn nur die Kinder nicht wären!“

Nun, sie würden die kränkelnde leidende Mutter kaum vermissen und – es sind ja Buben. Wie gut das ist! Keine arme beklagenswerte Prinzessin!

Ach, und da draußen die Welt! Ob man es dort wußte? Ob man lächelte und flüsterte über die verrathene Frau, welche die Geliebte ihres Mannes für eine Freundin hielt? – Sie stöhnte schmerzlich auf; der Druck auf der Brust wurde immer schwerer.

Und wieder stand sie auf, die Hände über der Brust gefaltet, und irrte im Zimmer umher. Es blieb ihr nichts übrig, als stolz zu sein, stolz und nachsichtig.

Wäre der Tag erst vorüber! Wäre die Nacht da, wo sie allein sein und weinen durfte!

Unten rollten Wagen in den Hof; auf dem Korridor erklangen Schritte geschäftiger Diener, Schleppen rauschten; die Gäste verfügten sich nach dem Salon vor dem alten Geroldschen Banketsaal, der in einem Zwischenbau lag, welcher die beiden Flügel des Schlosses verband.

Auch Claudine, die in ihrem Zimmer regungslos in einem Fauteuil saß, hörte es. Sie wandte bei jedem Tritt ihr Haupt, und wenn er vorüberging, lief eine flüchtige Röthe über ihr Gesicht. Warum befahl die Herzogin-Mutter sie nicht? Warum kam nicht wenigstens Fräulein von Böhlen, ihre Nachfolgerin bei der alten Hoheit, sie zu begrüßen? Es war doch Usance, daß die Damen sich besuchten. Und bei Frau von Katzenstein hatte die blasse, gelangweilt aussehende junge Dame mit dem röthlich blonden Haar und den unzähligen Sommersprossen schon vor einer halben Stunde angeklopft.

Vor ihr auf dem Tischchen lag die Uhr. Um dreiviertel auf Zwei mußte sie hinübergehen nach dem grünen Salon, wo die Herzogin sie erwartete, um dieselbe von dort zu den Gästen zu begleiten. Sie hatte ihre Toilette gewechselt; sie trug eine kurze Sommerrobe, welche die Herzogin ihr vor ein paar Tagen geschenkt hatte, blaßblauer seidener Foulard mit weißen Spitzen garnirt, und den dazu gehörigen Silberschmuck in Form von Edelweißblüthen als Brosche und Haarnadel. Der Fächer aus blauen Straußfedern lag neben den langen gelblichen Handschuhen. Zögernd ergriff sie die letzteren und streifte sie über; es war Zeit zum Gehen.

Auf dem Korridor traf Claudine mit Fräulein von Böhlen zusammen, die augenscheinlich in das Zimmer ihrer Gebieterin wollte. Die Damen kannten sich von den Hoffestlichkeiten her; Fräulein von Böhlen war namentlich oft bei der Herzogin-Mutter im kleinen Cercle gewesen. Ihr Vater, ehedem Kammerherr des verstorbenen Herzogs, hatte sich durch allerlei Intriguen bei dem Nachfolger mißliebig zu machen gewußt und sich in das Privatleben zurückziehen müssen unter keineswegs glänzenden Verhältnissen. Die alte Hoheit unterstützte die Familie, die sich tief gekränkt glaubte. Ihr immer zur Milde geneigter Sinn vergab und vergalt die Unannehmlichkeiten, die ihrem Hause zugefügt waren, indem sie die Tochter an Claudinens Stelle berief.

Fräulein von Böhlens rothblonder Kopf war vermutlich von einer Art Krampf in den Nacken zurückgezogen; sie schien ihn mit aller Gewalt nicht zu einem Gruß beugen zu können. Claudine, die in ihrer vornehmen stillfreundlichen Art ihr die Hand entgegen reichte, stand plötzlich allein. Die etwas zerdrückte krêmefarbige Schleppe der jungen Dame war ohne Aufenthalt an ihr vorübergerauscht und verschwand in einer der hohen altersbraunen Flügeltüren am Ende des Korridors.

Gelassen wandte sich Claudine und trat in das kleine Vorzimmer zu den Gemächern der Herzogin. Frau von Katzenstein machte ein so komisches Gesicht, so gutmütig, mitleidig und so verlegen.

„Hoheit hat noch kein Lebenszeichen von sich gegeben,“ stotterte sie, dann ward sie still – die Herzogin war auf die Schwelle getreten. Ihr erster Blick streifte die Freundin; Claudine sah vielleicht nie schöner aus, als in diesem leichten mädchenhaften Kostüm.

Die Herzogin neigte leise den Kopf und schritt durch das Gemach der gegenüberliegenden Thür zu; man vernahm dort innen die gedämpfte Stimme des Herzogs und das kalte Organ der Prinzeß Thekla.

Die Herzogin war stehengeblieben. „Gieb mir Deinen Arm, Claudine,“ sagte sie dann fast heiser, und so traten sie neben einander unter der rothen Portière hervor, welche die Lakaien zurückrafften, gefolgt von Frau von Katzenstein. In dem Salon, wo ungefähr zwanzig Personen sich befanden, herrschte momentan eine lautlose Stille.

War das noch die Herzogin?

Eine kleine zierliche Gestalt, dort hinter den Fächerpalmen halb verborgen, griff wie nach Halt suchend in den Purpursammet der Gardine; die zitternden Kniee versagten fast den Dienst bei der tiefen graziösen Verbeugung. Prinzeß Helene trat ein paar Schritt vor auf den Wink der Mutter; aber ihr dunkler Kopf senkte sich vergeblich, der Kuß der fürstlichen Kousine unterblieb heute.

Man setzte sich nicht. Plaudernd stand man umher. Baron Gerolds Augen hingen an Claudine; der Arm der Herzogin lag noch immer in dem des Mädchens. Ihre Augen waren auf die Mittelthür gerichtet, und jetzt ging die Röthe der Freude über ihr schönes Gesicht – die Herzogin-Mutter war eingetreten.

Auf diesem gefurchten gütigen Antlitz, unter dem silberweißen Scheitel, lag heute etwas ungewöhnlich Hartes. Aber Claudine sah es nicht. Auf des Mädchens Arm gestützt schritt die Herzogin ihrer Schwiegermutter entgegen und beugte sich auf die Hand der alten Dame nieder, während Claudine sich tief verneigte. Die Augen des jungen Mädchens sahen erwartungsvoll freudig in das Antlitz der fürstlichen Greisin.

„Ah, Fräulein von Gerold, ich bin erstaunt, Sie hier zu sehen; sagten Sie mir nicht, daß Sie Ihrem Bruder unentbehrlich seien?“

Die alte Dame hatte die Hände fest über einander gelegt; bei den letzten Worten sah sie zu Frau von Katzenstein hinüber, als wäre Claudine nicht anwesend.

Stolz trat Claudine zurück, und einen einzigen Moment trafen ihre Blicke die des Vetters. Athemlos still war es, nur die alte, jetzt so milde Frauenstimme sprach freundlich weiter mit der „lieben“ Katzenstein.

Claudine sah sich nicht um; es war ein lähmendes Entsetzen über sie gekommen; sie wußte auch nicht, wie ihre Füße sie zu der Herzogin hinüber trugen; sie wollte sprechen, aber in diesem Augenblick wurden die Thüren geöffnet; der Erbprinz, der heute die Ehre hatte, seine Großmama zur Tafel zu geleiten, trat feierlich vor die alte Dame mit seiner kleinen Person, und schon im nächsten Moment rauschte die silbergraue Schleppe der durchlauchtigsten Mutter über den Teppich.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 311. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_311.jpg&oldid=- (Version vom 24.7.2016)