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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

nahenden Erlösers. Erst noch ein völlig windstiller Tag, unter dessen seltsam bedrückender, feuchter Schwüle der hochliegende Schnee, so weiß er ist, ein eigenartiges, schwärzlich graues Ansehen gewinnt – und dann, inmitten der folgenden Nacht, kommt’s einhergesaust, von Süden über die Berge, mit Heulen, Knirschen, Schüttern und Dröhnen, als wäre ein Dämon los, der die Welt im Schlafe knechten möchte – – und es ist doch der stürmische Held, der sie erlöst aus dem eisigen Kerker.

Wenn dann am anderen Morgen der Jagdgehilfe von seinem täglichen Wintergange, vom „Futterplatz“, wo er dem in kleinen Rudeln rings in der Nähe lungernden Hochwild das Heu hinter die Raufen warf, ins Dorf zurückkehrt, dann meldet er wohl dem Förster: „Frühjahr wird’s – der Zwölfer und die zwei guten Zehner sind schon dahin.“ Er will damit sagen, daß die drei besten Hirsche seines Bezirkes bereits vom Futterplatze ausgeblieben sind, um von nun an in Freiheit ihre Aesung zu suchen – und er spricht sie dabei nach den Geweihen an, die sie im vergangenen Jahr getragen; daß sie dieselben bereits vor Tagen abgeworfen haben, das kann den Jäger nicht irren, der seine Hirsche an den „Gesichtern“ kennt.

„Fegender“ Hirsch.

Tag um Tag vergeht, und ehe noch der Bergwald bis zur Almenhöhe schneefrei ist, hat auch das letzte, von des Winters Noth entkräftete Schmalthier den Futterplatz verlassen. Da kommt nun für das Wild eine schwere Zeit. Auf den vom Schnee noch kaum befreiten Blößen, wie an den Bäumen und Sträuchern, die erst schüchtern zu knospen beginnen, findet es nur spärliche Aesung. Und wenn es der Hunger zur Nachtzeit in die Thäler treibt, um die lockenden Wiesen und die mit Wintersaat bestellten Felder zu suchen, dann findet es hohe, stachlige Zäune, klappernde und flatternde Wildscheuchen, kläffende Hunde, donnernde Schreckschüsse aus Bauernflinten und nicht selten, trotz aller Wachsamkeit der Jäger, auch würgende Drahtschlingen und meuchlerische Legbüchsen. Rastlos, bei Tag und Nacht, durchzieht das Wild auf stundenweiten Wegen die steilen Gehege, gequält vom Hunger und gepeinigt von den „Engerlingen“, von den seine Haut und sein Fleisch durchwühlenden Larven der Hirschbremse. Erst mit den wärmeren Tagen, die dem Wilde kräftigere und reichlichere Aesung bringen, wird es diese Peiniger los. Nun aber erzeugt das Uebermaß der Nahrung, besonders die Nachwirkung des allzu plötzlich vollzogenen Ueberganges vom trockenen Heufutter zum dicksaftigen, immer nassen Grünfutter mancherlei Krankheiten – und wenn nun gar noch das Frühjahr trübe Mienen aufzieht, lange Regentage oder späten Schneefall bringt, dann fällt so manch ein Stücklein, das den tiefen Schnee und den starrenden Frost des Winters glücklich überwunden, der kalten Nässe des launischen Frühlings zum Opfer. Zu solcher Zeit durchkreuzt der Jäger in Sorgen sein Revier – und da stößt er oft häufiger, als er erwartet, im Zufall oder gelenkt von seinem windenden Hunde, auf einen im Dickicht verwesenden Kadaver oder auf eine Stelle, an welcher nur noch einige Haar- und Knochenreste von der Waldtragödie erzählen, die hier sich abgespielt.

Erst mit dem Eintritt des Mai, der den widerspänstigen Schnee zurücktreibt in das hohe, kahle Gestein und auf den Almen das frische Grün erweckt, beginnt die gute Zeit für das Hochwild. Da sieht der Jäger, wenn er an sonnigen Morgen von der Spielhahnfalz zurückkehrt, das Wild in Rudeln sorglos und fleißig äsend über das „Almbrett“[1] ziehen. Dann sitzt er oft durch lange Stunden hinter einem Felsblock oder vor einer der stillen, versperrten Sennhütten und mustert durch das scharf zeigende „Specktif“ der Reihe nach die einzelnen Stücke des Rudels. Manch’ eine altersschwache „Großmutter“, manch’ eines von den „Schmalstückln“ und von den nun bald jährigen Kälbern sieht freilich noch gar „schiech“ und „schier zum derbarmen“ aus. Aber mit jedem Tage bessert sich jetzt das Aussehen des Wildes, das schon anfängt, sich zu „verfärben“, das dicke, schwärzlich graue Winterkleid gegen das leichte braunrothe Sommergewand umzutauschen. Bald stehlen sich die trächtigen Mutterthiere vom Rudel ab, um in dunklem, stillem Dickicht einsam ein weiches Moosbett aufzusuchen – und wenn sie nach Wochen wieder zum Rudel stoßen, dann tummeln sich unter ihren sorgenden Blicken die erst wenige Tage alten, weißgefleckten zierlichen Kälber mit lustig spielenden Sprüngen über das Almengras.

Nun beginnt auch schon bei den geringeren Hirschen, die sich zum Rudel halten, die Bildung des neuen Geweihes. Die „guten“ Hirsche, die gleich nach dem Verlassen des Futterplatzes einsiedlerisch ihre alten Stände suchten, haben inzwischen schon wacker „geschoben“, so daß sich an den wulstigen, graubehaarten „Kolben“ bereits die untersten Enden, die „Augensprossen“ zeigen. Selten bekommt man während der Kolbenzeit solch einen alten Herrn zu Gesicht. Die Gräser und Kräutchen des Dickichts sowie die frischen, noch weichen und saftreichen Blätter der Gesträuche bieten ihnen vorerst genügende Aesung – und sie scheuen um diese Zeit jede andauernde und flüchtige Bewegung, da der weiche Kolben mit seinen zarten, von Blut zum Strotzen geschwellten Geweben gegen alle Berührung ungemein empfindlich ist. Erst gegen Mitte Juli, wenn die Verfärbung vollzogen und die Geweihbildung ihrer Vollendung nahe ist, beginnen die guten Hirsche allabendlich mit Einbruch der Dämmerung ihren regelmäßigen „Auszug“ auf die weiten, lichten Schläge zu halten, um durch die reiche, kräftige Aesung, die sie hier finden, tüchtig „Feist“ unter die „Decke“ zu bringen. Ein paar Wochen noch, dann sind die Enden ausgeschoben und stattlich prangt die zackige Krone. Aber je mehr das Geweih sich verhärtet und der dasselbe umkleidende „Bast“ ins Trocknen und Welken geräth, desto scheuer und vorsichtiger werden die Hirsche, desto mehr verspätet sich mit jedem Abend

  1. Bezeichnung für den gesammten Weideplatz einer Alm, besonders für die ebener liegenden Wiesen, auf denen das Gras besser und reichlicher gedeiht.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 378. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_378.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)