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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

beinahe einem Ueberfall, aber Thurgau mußte wohl daran gewöhnt sein, denn er sträubte sich nicht im mindesten gegen die feuchten Liebkosungen, die ihm reichlich von beiden Seiten zu theil wurden.

„Da bin ich, Papa!“ rief eine helle Mädchenstimme. „Naß wie eine Wassernixe! Das ganze Wetter habe ich ausgehalten droben am Wolkenstein; sieh nur, wie wir aussehen, ich und der Greif!“

„Ja, man merkt es, daß Ihr direkt aus den Wolken kommt,“ sagte Thurgau lachend. „Aber siehst Du denn nicht, Erna, daß wir Besuch haben? Erkennst Du ihn noch?“

Erna richtete sich empor; sie hatte den Präsidenten, der bei dem Einbruch der beiden aufgesprungen und seitwärts getreten war, noch gar nicht bemerkt und schien einige Sekunden lang ungewiß zu sein über seine Persönlichkeit, dann aber jubelte sie auf. „Onkel Nordheim!“ und eilte auf ihn zu, aber er streckte abwehrend die Hände aus.

„Kind, ich bitte Dich, Du sprühst ja förmlich Nässe bei jeder Bewegung! Du gleichst wirklich einer Wassernixe – um Gotteswillen, halte mir den Hund vom Leibe! Wollt Ihr mich hier im Zimmer noch nachträglich mit einem Gewitterregen erfreuen?“

Erna ergriff lachend den Hund am Halsbande und zog ihn zurück. Greif zeigte allerdings Lust, nähere Bekanntschaft anzuknüpfen, was bei dem gänzlich durchweichten Zustande, in dem er sich befand, nicht gerade angenehm für den Betreffenden gewesen wäre. Uebrigens sah seine junge Herrin nicht viel besser aus: ihre Bergschuhe, die derb und plump den kleinen Fuß umschlossen, das hochgeschürzte Kleid von dunklem Lodenstoff und das schwarze Filzhütchen, alles triefte von Nässe. Sie schien sich aber sehr wenig darum zu kümmern, sie warf den Hut auf den ersten besten Stuhl und strich mit beiden Händen die feuchten Locken zurück, aus denen noch einzelne Tropfen rannen.

Erna glich ihrem Vater sehr wenig; nur die blauen Augen und das blonde Haar hatte sie von ihm; sonst existirte nicht die geringste Aehnlichkeit zwischen der hünenhaften Gestalt des Freiherrn, seinen gutmüthigen aber ziemlich ausdruckslosen Zügen und der Erscheinung des etwa sechzehnjährigen Mädchens, das, schlank und geschmeidig wie eine Gazelle, trotz seines ungestümen Auftretens doch in jeder Bewegung eine unbewußte Grazie verrieth. Das Gesicht zeigte die ganze rosige Frische der Jugend; für schön konnte es nicht gelten, wenigstens jetzt noch nicht. Die Züge waren noch sehr kindlich und unentwickelt und um den kleinen Mund lag ein Ausdruck, der auf herben Kindertrotz deutete. Schön waren eigentlich nur die Augen, deren tiefes dunkles Blau an die Farbe der Bergseen erinnerte. Das Haar wurde von keinem Bande, keinem Netze festgehalten; vom Sturme zerzaust, vom Regen durchnäßt, fiel dies wilde üppige Gelock fessellos auf die Schultern nieder. Das Mädchen sah allerdings nicht gerade salonfähig aus, sondern wie ein lebendiggewordener Frühlingssturm.

„Fürchtest Du die paar Regentropfen, Onkel Nordheim?“ fragte sie übermütig. „Was hättest Du denn angefangen in dem Wolkenbruch, dem wir ganz schutzlos preisgegeben waren? Ich machte mir freilich nicht viel daraus, aber mein Begleiter –“

„Nun, ich dächte, dem Greif wäre der Pelz auch oft genug gewaschen worden,“ fiel der Freiherr ein.

„Greif? Den hatte ich, wie gewöhnlich, bei der Sennhütte zurückgelassen; er kann ja nicht klettern und von da an heißt es, mit den Gemsen um die Wette steigen. Ich meine den Fremden, mit dem ich unterwegs zusammentraf. Er hatte sich verstiegen und konnte in dem Nebel den Rückweg nicht finden; hätte ich ihn nicht geführt, er säße noch droben am Wolkenstein.“

„Ja diese Stadtherren!“ sagte Thurgau ärgerlich. „Das kommt hierher mit den großen Bergstöcken, mit den nagelneuen Touristenanzügen und thut, als ob ihm unsere Alpengipfel nur ein Spiel wären; aber bei dem ersten Regenguß kriecht es in eine Felsspalte und holt sich den Schnupfen. Es hat sich wohl sehr gefürchtet, das Herrchen, als das Wetter losbrach?“

Erna schüttelte den Kopf, aber auf ihrer Stirn erschien eine Falte.

„Nein, furchtsam war er nicht; er hielt ganz gelassen neben mir aus unter Sturm und Blitzen und auch beim Abstieg hat er sich tapfer gezeigt, obgleich man sah, daß er die Sache nicht gewohnt war. Aber es war ein abscheulicher Mensch. Er lachte, als ich ihm von der Alpenfee erzählte, die jeden Winter die Lawinen in das Thal niederschickt, und als ich böse wurde, sagte er so ganz von oben herab: ‚Ja freilich, wir sind hier in der Sphäre des Aberglaubens, das hatte ich ganz vergessen!‘ Ich wollte, die Alpenfee hätte ihm gleich auf der Stelle eine Lawine über den Hals geschickt, und das habe ich ihm auch gesagt.“

„Das hast Du einem fremden Herrn gesagt, den Du zum ersten Mal sahst?“ fragte der Präsident, der bisher schweigend, aber mit befremdeter Miene zugehört hatte.

Erna warf trotzig den Kopf zurück.

„Gewiß that ich das! Wir mögen ihn nicht leiden, nicht wahr, Greif? Du hast ihn auch angeknurrt, als ich mit ihm bei der Sennhütte anlangte, und das ist brav von Dir, mein Thier, sehr brav! – Aber jetzt muß ich wirklich sehen, daß ich in trockene Kleider komme; Onkel Nordheim bekommt sonst den Schnupfen von meiner bloßen Nähe.“

Sie eilte fort, ebenso stürmisch wie sie gekommen war; Greif machte Miene, ihr zu folgen; da ihm aber die Thür vor der Nase zufiel, so besann er sich eines anderen. Er schüttelte sich, daß die Tropfen nach allen Richtungen hin sprühten, und lagerte sich dann zu den Füßen seines Herrn.

Nordheim hatte sein Taschentuch hervorgezogen und fuhr damit demonstrativ über seinen feinen schwarzen Rock, obgleich er glücklich von der Douche verschont geblieben war.

„Nimm es mir nicht übel, Schwager, aber es ist wirklich unverantwortlich, wie Du Deine Tochter aufwachsen läßt,“ sagte er scharf.

„Was?“ fragte Thurgau, der augenscheinlich höchst erstaunt darüber war, daß man an seinem Kinde irgend etwas auszusetzen fand. „Was fehlt dem Mädel denn?“

„Nun, ich dächte so ziemlich alles, was man von einem Fräulein von Thurgau erwarten darf. Was war das für ein Aufzug, in dem sie hier erschien! Und Du duldest es, daß sie stundenlang in den Bergen umherschweift und mit dem ersten besten Touristen eine Bekanntschaft anknüpft?“

„Pah, sie ist ja noch ein Kind!“

„Mit sechzehn Jahren? Es war ein Unglück, daß sie so früh die Mutter verlor; seitdem hast Du sie förmlich verwildern lassen. Freilich, wenn ein junges Mädchen in solchen Umgebungen aufwächst, ohne Unterricht, ohne Erziehung –“

„Bitte sehr,“ unterbrach ihn der Freiherr gereizt. „Ich habe damals, als ich beim Tode meiner Frau nach dem Wolkensteiner Hof übersiedelte, einen Lehrer mitgenommen, den alten Magister, der erst im letzten Frühjahr gestorben ist. Erna hat bei ihm alles Mögliche gelernt, und erzogen habe ich sie. Gerade so habe ich sie gewollt; denn eine zarte Treibhauspflanze wie Deine Alice können wir hier oben nicht brauchen. Mein Mädel ist gesund an Leib und Seele; frei ist sie aufgewachsen, wie der Vogel in der Luft, und soll es bleiben. Wenn Du das ‚verwildern‘ nennst – meinetwegen! Mir ist mein Kind recht.“

„Dir vielleicht, aber Du wirst doch nicht immer die einzig maßgebende Persönlichkeit in ihrem Leben sein. Wenn sich Erna dereinst verheirathet –“

„Ver–heirathet? “ wiederholte Thurgau mit starrem Entsetzen.

„Allerdings, Du mußt doch erwarten, daß früher oder später sich ein Bewerber meldet.“

„Das soll sich einer unterstehen! Dem Kerl schlage ich Arme und Beine entzwei!“ schrie der Freiherr in voller Wuth.

„Du versprichst ja ein liebenswürdiger Schwiegervater zu werden,“ bemerkte Nordheim trocken. „Ich dächte, es wäre die Bestimmung der Mädchen zu heirathen, oder glaubst Du vielleicht, daß ich von meiner Alice fordere, sie solle unvermählt bleiben, weil sie meine einzige Tochter ist?“

„Das ist etwas anderes,“ sagte Thurgau langsam, „etwas ganz anderes. Du magst Deine Tochter liebhaben – nun ja, warum denn nicht – aber Du würdest sie sehr leichten Herzens hingeben. Ich habe nichts auf der weiten Gotteswelt als mein Kind, das Einzige, was mir geblieben ist, und das gebe ich nicht her, um keinen Preis. Sie sollen mir nur kommen, die Herren Freier, ich werde sie schon heimschicken, daß sie das Wiederkommen vergessen.“

Der Präsident lächelte; es war jenes kalte, mitleidige Lächeln, mit dem man auf die Thorheiten eines Kindes herabsieht.

„Wenn Du Deinen Erziehungsgrundsätzen treu bleibst, wirst Du überhaupt nicht in den Fall kommen,“ sagte er sich erhebend. „Aber noch eins – Alice trifft morgen in Heilborn ein, wo ich sie erwarte; der Arzt hat ihr die dortigen Bäder und die Alpenluft verordnet.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_391.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)