Seite:Die Gartenlaube (1888) 394.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
Vom Nordpol bis zum Aequator.
Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Alfred Edmund Brehm.
Eine Reise nach Sibirien.[1]

Die volksbelebten Straßen St. Petersburgs, die goldstrahlenden Kuppeln Moskaus lagen hinter uns, die Thürme Nischni-Nowgorods am jenseitigen Ufer der Oka vor uns. Dankerfüllt waren wir aus den beiden Hauptstädten des russischen Reiches geschieden. Von Sr. Majestät, unserem ruhmreichen Kaiser Wilhelm, huldvoll verabschiedet, vom auswärtigen Amte Deutschlands warm empfohlen, von dem deutschen Botschafter in St. Petersburg aufs freundlichste empfangen, hatten wir in Rußland wohl eine gute Aufnahme erhofft, eine solche aber gefunden, welche unsere kühnsten Erwartungen bei weitem übertreffen mußte. Die besten Empfehlungen, deren Gewichtigkeit uns erst später erkennbar werden sollte, begleiteten uns.

Bis Nischni-Nowgorod hatten uns die Verkehrsmittel der Neuzeit gefördert; fortan sollten wir erfahren, wie man im russischen Reiche Entfernungen von Tausenden von Kilometern oder Wersten durchmißt – durchmißt im Winter wie im Sommer, des Nachts wie am Tage, im grollenden Unwetter wie im lachenden Sonnenscheine, im klatschenden Regen oder eisigen Schneesturme wie bei stäubender Dürre, im Schlitten wie im Wagen. Vor uns stand der riesige und massige, in allen Fugen verklammerte, durch weit auslegende Streben gegen das Umfallen, durch ein Verdeck gegen Schnee und Regen geschützte Reiseschlitten, und das Glöcklein erklang im Krummholze des Dreispanns.

Auf der krystallnen Decke der Wolga begannen wir am 19. März 1877 die hier rasch fördernde, aber doch nicht ungehinderte Fahrt. Thauwetter hatte uns begleitet von Deutschland nach Rußland, Thauwetter uns aus Petersburg und Moskau vertrieben, Thauwetter blieb unser beständiger Gefährte, als wären wir Boten des Frühlings. Mit Wasser gefüllte Löcher im Eise, an die gähnende Tiefe unter uns bedrohlich mahnend, durchnäßten Pferde, Schlitten und uns oder nötigten zu unliebsamen Umwegen, welche, des knarrenden und dröhnenden Eises halber, gefährlicher schienen, als sie waren, machten auch Kutscher und Postmeister so besorgt, daß wir schon nach kurzer Fahrt die glatte Eisbahn mit der bisher noch nicht befahrenen Sommerstraße vertauschen mußten. Sie, die Straße, auf welcher nicht allein Tausende von Frachtwagen, sondern ebenso viele der Verbannten dem gefürchteten Sibirien zuziehen, für letztere eine Seufzerstraße , wurde auch uns zu einer solchen. Meterhoch lag der noch lockere, aber bereits wassergesättigte Schnee auf ihr; rechts und links rannen und rauschten Bächlein überall da, wo sie rinnen und rauschen konnten; in beklagenswerther Weise quälten sich die jetzt in langer Reihe vor einander gespannten Pferde, um festen Fuß zu fassen, sprungweise versuchten sie, die Spuren der ihnen vorausgegangenen zu erreichen, und bis an die Brust sanken sie bei jedem Fehlsprunge ein in den Schnee, in das eisige Wasser. Hinterher polterte der Schlitten, in allen Fugen krachend, wenn er mit jähem Schwunge aus der Höhe herab in die Tiefe geschleudert wurde; stundenlang blieb er zuweilen, der unglaublichsten Anstrengungen der Pferde spottend, in einem Loche sitzen, und wehmüthig fast klagte das wölfescheuchende Glöcklein. Vergeblich mahnte, bat, beschwor, krächzte, kreischte, schrie, brüllte, fluchte und peitschte der Kutscher; in den meisten Fällen gelang es erst durch fremde Hilfe wieder flott zu werden.

Qualvoll dehnten sich die Stunden, zu vier- und fünffacher Länge die Wegstrecken. Vom Schlitten aus nach rechts und links zu schauen, verlohnte sich kaum der Mühe; denn reizlos und öde liegt das flache Land vor dem Auge; nur in den Dörfern bot sich viel Erbauliches und Beschauliches, aber auch bloß dem, welcher beobachten wollte und konnte. Noch hielt hier der Winter die Leute zurück in ihren kleinen, zierlich angelegten, meist aber arg vernachlässigten Blockhäusern; nur bepelzte Knäblein liefen barfüßig durch den wässerigen Schnee und kothigen Schmutz, welchen ältere Knaben und Mädchen mit Hilfe von Stelzen zu überwinden strebten; nur alte weißbärtige Bettler umlagerten Posthäuser und Schenken, Bettler aber, welche jeder Maler ebenso entzückend gefunden haben müßte, wie ich sie fand. Auch die Thierwelt trat in den Dörfern mehr hervor als auf den Feldern und selbst in den Wäldern, welche wir durchzogen. Draußen hielt der Winter noch alles thierische Leben gefesselt, war noch alles still und todt, bemerkten wir, außer der Nebelkrähe und der Goldammer, fast keinen Vogel, im Schnee kaum die Spuren eines Säugethieres; in den Dörfern bewillkommten uns wenigstens die reizenden Dohlen, der Blockhausdächer anmuthigster Schmuck, die Kolkraben – bei uns zu Lande scheue Gebirgs- und Waldbewohner, hier des Dörflers vertrauenselige Genossen –, Elstern und andere Vögel mehr, ganz abgesehen von den Hausthieren, unter denen vor allen die frei umherlaufenden Schweine unsere Beachtung auf sich ziehen mußten.

Nach viertägiger, ununterbrochener Fahrt, ohne erquicklichen Schlaf, ohne stärkende Ruhe, ohne genügende Nahrung, an allen Gliedern wie zerschlagen, erreichten wir, nachdem wir zu Fuße die vielfach geborstene Eisdecke der Wolga überschritten, Kasan, die alte Hauptstadt der Tataren, deren sechzig Thürme uns schon gestern freundlich entgegengeleuchtet hatten. Ich glaubte mich zurückversetzt in das Morgenland. Von den Minarets und den sie hier und da vertretenden spitzdachigen Holzthürmen herab klang mir wiederum in arabischen Lauten der Ruf zum Gebete entgegen, zu welchem der Islam seine Bekenner fordert; zwischen turbantragenden Männern huschten, ängstlich vor diesen sich verschleiernd, neugierig vor uns sich enthüllend, schwarzäugige Frauen dahin, der zierlichen und durchlässigen Saffianschuhe halber besorglich die übertrauften Stege längs der Häuser suchend; im Gewühle des Bazars trieb sich zwanglos Alt und Jung umher: alles ganz ebenso wie im Morgenlande. Nur die vielen pomphaften Kirchen, unter denen die des Klosters der „nicht von Menschenhänden gefertigten schwarzen Gottesmutter von Kasan“ durch Lage und Bauart hervortritt, wollten zu diesem morgenländischen Bilde nicht passen, so wenig sich auch verkennen ließ, daß hier zu Lande Christen und Mohammedaner einträchtiglich mit einander leben.

Mit leichteren Schlitten, auf womöglich noch grundloseren Wegen zogen wir weiter, Perm, dem Ural entgegen. Durch tatarische und russische Dörfer und die sie umgebenden Fluren, durch weitausgedehnte Wälder führt die Straße. Die tatarischen Dörfer stechen meist vortheilhaft von den russischen ab und machen sich nicht allein durch das Fehlen der als unrein geltenden Schweine, sondern, und mehr noch, durch den stets wohlgepflegten, mit hohen Bäumen bestandenen Friedhof kenntlich; denn der Tatar ehrt die Ruhestätte seiner Todten. Die Wälder sind, obschon forstlich eingeteilt, doch nichts anderes als Urwälder, welche wachsen und gedeihen, altern und vergehen, ohne Zuthun des Menschen; sie liegen viel zu weit ab von schiffbaren Flüssen, als daß sie sich jetzt schon verwerthen ließen.

Zwei große Flüsse, die Wjätka und Kama, kreuzen unsere Straße. Noch hält jene der Winter in starren Banden; aber der heranwehende Frühling beginnt bereits die eisige Decke zu lösen. Wasser überfluthet die Uferränder und zwingt die Pferde der Frachtfuhrleute, welche die über solche Stellen geschlagenen Nothbrücken verschmähen, schwimmend den hinter ihnen wie ein Boot treibenden Schlitten durch das Wasser zu ziehen.

Schon vor Perm müssen wir den Schlitten mit dem Reisewagen vertauschen, und in ihm rollen wir dem Europa und Asien trennenden Ural zu. Ueber langgestreckte, sanfte, aber mehr und mehr ansteigende Hügelreihen zieht sich die Straße. Das Gepräge der Landschaft ändert sich; zwar nicht großartige, aber doch hübsche Gebirgsbilder stellen sich dem Auge dar. Kleine Wäldchen mit dazwischen liegenden Feldern und Wiesen erinnern an die Vorberge der Alpen Steiermarks; die meisten Wälder sind arm und dürftig, denen der Mark vergleichbar, andere reicher und bunt, auch auf weithin geschlossen. Dort bilden sie niedrige Kiefern und

  1. In Anbetracht des Interesses, welches in letzter Zeit die geplante „russische Pacificbahn“ und die Eröffnung der ersten Strecke derselben bis Tjumen in weiteren Kreisen erregt haben, dürfte dieser Reisebericht A. E. Brehms unseren Lesern um so willkommener sein, als er die früheren Zustände in denjenigen Ländern schildert, welche jetzt zum Theil dem Dampfroß erschlossen worden sind. D. Red.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 394. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_394.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)