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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Prinzeß Helene faßte die Hand der jungen Frau. „Vergeben Sie mir!“ sagte sie leise weinend.

„Und nun ruft Adalbert!“ forderte die Kranke.

Er kam, setzte sich auf den Rand ihres Bettes, und sie drückte ihm stumm die Hände bei seinen heißen Bitten um Verzeihung.

„Wenn ich leben könnte, Dich zu trösten, mein armer Freund!“ flüsterte sie. „Es ist so schwer, entsagen zu müssen, ich weiß es. Aber – sie liebten sich nun einmal, und Du, Du gehst so leer aus, so leer! Ach, wenn es in meiner Macht gestanden hätte, wie glücklich solltest Du werden!“

„Sprich nicht so,“ sagte er. „Ich werde nur unglücklich, mein Liesel, wenn Du mich verläßt!“

„Sag’ noch einmal ‚mein Liesel‘,“ bat sie und sah ihn an, und die fast erloschenen Augen flammten noch einmal in dem alten innigen Liebesschein.

„Mein Liesel!“ flüsterte er mit versagender Stimme.

Sie drückte seine Hand.

„Nun geh’, Adalbert, ich will schlafen, ich bin so müde – Küsse die Kinder – geh’!“ drängte sie.

Und sie schlief.

Die junge Frau saß treu wachend an ihrem Lager. Nur einmal war es, als legte sich minutenlang eine zwingende Müdigkeit auf ihre Augen, kaum eine Minute mochte es gewährt haben, da raffte sie sich auf, von einem Schauer erweckt. Die Herzogin lag so seltsam ruhig da, ein Lächeln auf den Lippen, die Hände gefaltet.

Claudine faßte ihre Hand. „Elisabeth!“ sagte sie angstvoll und laut.

Sie hörte es nicht mehr.

Auch die Prinzessin trat näher und sank schluchzend vor dem Bette nieder. Und der Herzog kam und der Arzt, die alte Hofdame –

Es war so still, so beängstigend still in dem hellen prächtigen Raum.

Dann gingen sie alle; nur der Herzog und Claudine blieben zurück. Sie saßen am Bette der Todten, und durch die geöffneten Fenster des Nebenzimmers schollen die tiefen Klänge der Kirchenglocken herein, die an diesem kalten dunklen Wintermorgen dem Lande verkündigten, daß seine Fürstin schlafe, den langen ewigen Schlaf.

So hielten sie Todtenwache, die beiden, die ihr die liebsten Menschen gewesen.




Im Garten des Eulenhauses blühten Leberblümchen, und gelbe, blaue und weiße Crocus lugten aus der schwarzen Frühlingserde hervor. Der alte Heinemann schaffte emsig an seinen Rosenstöcken, nahm ihnen die Winterhülle und band sie an die frisch gestrichenen grünen Pfähle. Die Sonne hatte über Mittag schon heiß auf die alten Grabsteine geschienen, und die jungen Blättchen regten und dehnten sich, sie sehnten sich nach Luft und Licht.

Der alte Mann war doppelt fleißig heute; er hatte um Urlaub gebeten für morgen; er wollte nach Altenstein hinunter, zur Hochzeit seiner Enkelin, die ihren alten Schatz heirathete.

Hinter den blitzblanken Fensterscheiben tauchte Fräulein Lindenmeyers freundliches Gesicht auf; zuweilen wandte sie redend den Kopf in das Zimmer zurück, dort stand die kleine runde Ida und legte Wäsche. Die Ida war wieder hier, auf Verlangen der jungen Frau von Gerold, weil diese doch über kurz oder lang nach Neuhaus übersiedeln wollte. Wann? Ja, das wußte niemand. Der Herr Baron war noch immer auf Reisen, und seine junge Gattin trug noch tiefe Trauer um die Herzogin.

Merkwürdig, was heute diese schmalen Frauenfüße für eine Unrast entwickelten. Die gnädige Frau war im ganzen Hause umhergestiegen mit dem klappernden Schlüsselbund, hatte in alle Schränke und Spinden geschaut, des Herrn Wäscheschrank inspicirt und die Garderobe des Kindes; sie hatte das Wirtschaftsbuch nachgerechnet und die kleine Haushaltungskasse. Nun schüttelte sie über sich selbst und ihre Unruhe den Kopf; sie begriff sich heute nicht; sie hatte weder die nöthige Sammlung, zu schreiben, noch konnte sie sich heute entschließen, ihr Feierstündchen am Klavier zu halten, worauf sie sich sonst den ganzen Tag schon freute. Sie meinte endlich, es sei am besten, wenn sie einen Spaziergang mache. Da sie ohnehin seit mehreren Tagen Beate und die Kleine in Neuhaus nicht gesehen, beschloß sie dorthin zu wandern; vielleicht wußte Beate auch Näheres über Lothars Reisepläne; seine letzten Nachrichten hatten sie aus Mailand empfangen.

Sie hatten sich nicht geschrieben, Claudine und er; die junge Frau wollte es nicht. „Wir können uns ja mündlich alles erzählen,“ hatte sie gebeten, „es ist das soviel schöner; ich erfahre ja von Beate, ob Du gesund bist und wo Du weilst.“

Sie band sich den Mantel um, schlug das Spitzentuch über den Kopf und ging hinauf, um Joachim „ Adieu!“ zu sagen.

„Wo willst Du hin?“ fragte er.

„Zu Beate, Joachim.“

Er war aufgestanden und sah sie liebevoll an. „Wie bald wird die Zeit kommen, wo Du ganz fort gehst!“ sagte er.

„Ich komme mir bei dem Gedanken, daß ich Dich eines Tages verlassen werde, schon ganz treulos vor.“

„O mein Liebling, Du ahnst nicht, wie froh ich bin, Dich glücklich zu wissen!“ Und er begleitete sie hinunter bis zur Gartenpforte. „Willst Du allein gehen?“

„Ich fürchte mich nicht, Joachim.“ Sie drängte ihn zurück und ging still davon. Es senkte sich schon die Dämmerung über die Bäume; die Wolken zogen rasch dort oben am Himmel; aber der Wind, der sie trieb, war lind und weich, und er wehte den Schleier zurück von der weißen Stirn der jungen Frau und beugte die knospenden Aeste zu einander; er fuhr über das junge Gras am Wegesrand und erzählte von kommender Herrlichkeit, von Blüthenpracht und Sonnenglanz. Mit eiligen Schritten kam sie daher, so schwebend und leicht, als habe sie Flügel. Sie sah bald in die Wellen des Baches, der ihr zur Seite rauschte, das letzte Schneewasser von den Bergen führend, bald in die Wolken hinauf, und Lächeln und Ernst gingen in beständigem Wechsel über ihr Gesicht. Es war ihr so eigen zu Muthe, und einmal sagte sie halblaut. „Wenn er schon da wäre?“

Am Eingang des Neuhäuser Parkes blieb sie stehen, in der Lindenallee rauschte der Wind durch die Aeste und das Schloß lag so still und so dunkel. Einen Augenblick wollte mädchenhafte Scheu ihre Füße lähmen; herzklopfend und erglühend lehnte sie an dem Sandsteinpfeiler und wagte nicht, den Fuß in den Garten zu setzen. Wieder kam es wie Ahnung über sie. „Wenn er schon hier wäre?“ Noch hatte niemand sie gesehen, das war gut! Sie meinte plötzlich, sie müsse umkehren.

Dann drückte sie sich ängstlich zur Seite; die Allee entlang kam ein Reiter in raschestem Trabe. Sie erkannte ihn trotz der tiefen Dämmerung, sie wußte, wohin er reiten würde – und ein unaussprechliches Glücksgefühl bemächtigte sich ihrer. Aber er durfte sie nicht sehen. Dann schrie sie leicht auf; der Jagdhund, der in tollen Sprüngen das Pferd umkreiste, hatte sie erkannt und stürmte auf sie zu. Im nämlichen Augenblick stand das Pferd; sein Reiter warf sich aus dem Sattel und hielt die junge Frau umfaßt.

„Endlich!“ sagte er. „Und Du bist hier – hab’ Dank!“

Sie konnte nicht antworten, sie weinte nur. Und als sie langsam dem Hause zuschritten, da sagte sie endlich: „Ich habe gefühlt, daß Du hier bist. Wann kamst Du, Lothar?“

„Vor einer Viertelstunde, mein Lieb.“

„Wo wolltest Du eben hin?“ fragte sie, und ein schelmisches Lächeln, das dem ernsten Antlitz wunderbar gut stand, flog um ihren Mund.

„Zu Dir, Claudine,“ erwiderte er einfach.

Sie lächelte ihm glückselig zu. „Und nun sollst Du auch wissen, Lothar, ich habe Dich schon immer geliebt. Gott sei Dank, daß Er Dein Herz mir zuwendete!“

„Dir zuwendete?“ fragte er bewegt. „Ich habe Dich geliebt seit dem Tage, wo ich Dich so unerwartet im Zimmer der Herzogin-Mutter traf. Weißt Du noch, Du sangst das ,Veilchen‘ von Mozart?“

„Und nachher: ,Willst Du Dein Herz mir schenken‘. O, ob ich es weiß! Aber, Lothar, wenn Du mich damals schon liebtest –“

„Frage nicht, Claudine,“ wehrte er, „es liegen so schwere düstere Zeiten dazwischen, Jahre, in denen ich mehr gelitten habe, als ich sagen kann.“

Sie schwieg und sah wieder zu den Wolken empor und drückte sich fester an seinen Arm. Ihr zur andern Seite ging der Hund, hinter ihnen folgte das Pferd, dessen Zügel Lothar um den Arm geschlungen hatte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 423. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_423.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2016)