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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Wir gingen hinauf, Wiebke vor mir her. Hier, in dem engen Treppengang hörte man das Rauschen und Rollen der steigenden See noch viel deutlicher, dumpfer, klatschender. Und dazu das über die gerundeten Wände fahrende Licht, vor und hinter uns alles im tiefsten Dunkel. „Hören Sie,“ sagte Wiebke, sich zu mir wendend, daß ihr halbes Gesicht vom Lichtschein übergossen war und die andere Hälfte vom Schatten bedeckt: „Hören Sie das Brausen! Sie werden gut dabei schlafen! Es ist wie Gesang!“

Ich war allein hier; fern von allem und allen Bekannten mitten im Nordmeer, allein mit dem verführerischen Kinde in dunkler schweigender, einsamer Nacht; über uns das strahlende, warnende Licht, das seinen Glanz hinauswarf in die weite Finsterniß; unter uns jener Gesang der Nacht und der Fluthen – es lag ein Hauch wahrhaft lockender Poesie über dieser Stunde.

Wir standen vor ihrer Kammer. „Gute Nacht, Wiebke.“ Ich reichte ihr die Hand. „Gute Nacht!“ – „Gute Nacht!“

Ihr Auge sprach mit. Ich trat in mein Zimmer und lehnte hinaus.

„Ja, Luftveränderung!“ sagte ich zu mir. „es ist merkwürdig, was die thut; ich kenne mich selbst nicht mehr; ich bin heute schon ein ganz anderer Mensch!“

Ich schlief köstlichen, traumlosen Schlaf. Eine frische Stimme weckte mich, die mich durchs Schlüsselloch mit munterem Klang anrief: „Herr Amtsrichter, es ist Zeit!“

Was für ein Morgen lächelte über der See! Prächtige Luft umwehte uns; der Duft des Salzwassers fächelte belebend um meine Stirn und ich sog ihn ein wie ein Genesender. Wir saßen dicht an einander hinten im Boot, das vor frischer Brise mit halbem Wind, wie man so sagt pfeilschnell, durch die grünliche, schillernde Fluth schoß. Wiebke steuerte; ich hielt die Schot. „Immer klar zum Loswerfen!“ mahnte Wiebke, die in all ihrem Silberschmuck glänzte. Ich ließ eines der silbernen Kettchen durch die Finger laufen.

„Schöne, feine Arbeit – und Sie tragen gern Schmuck?“

„Furchtbar gern! Wenn ich mich ’mal verlobe, dann muß mein Bräutigam mir viel, viel schenken! Ich bin gar nicht so sehr für schöne Kleider; man kann in einfachem Zeug, wenn’s nur gut sitzt, ebenso nett aussehen; aber alles, was Geschmeide heißt, das lockt mich, ich hab’s von klein auf so gern gehabt. Geben Sie Acht, wir drehen etwas in den Wind, sonst laufen wir auf den Stein da auf!“

Ein einsamer großer Felsblock ragte um einige Fuß aus dem Wasser, und silberne Tropfen spritzten um ihn. „Bei Ebbe liegt er trocken; gerade soweit geht das Wasser zurück,“ erklärte Wiebke. „Ist einmal ein Kind hier ertrunken, das vom Hochwasser überrascht wurde und zu spät ein Herz faßte zurückzugehen, wie’s Wasser schon tief war. Keiner hatte es bemerkt. Die Dünen liegen zwischen dem Dorf und dem Stein. Es soll noch da spuken und die Schiffer warnen bei schlechtem Wetter.“

Heute morgen saßen weiße Möven auf ihm und flogen, wie das Boot eilig vorüberschoß, schreiend in die Höhe. Das Boot stampfte leicht vor dem Seegang; im Sonnenlicht glitzernde Spritzer übersprühten den eintauchenden Bug mit Perlenschaum; langgestreckt, langsam anwachsend, rauschten die niedrigen Seen quer gegen uns an, selten nur einen kleinen klatschenden Guß über den Dollbord werfend, wenn die Brise nachließ und das Boot sich nach luvart ausrichtete.

„Fürchten Sie sich?“ fragte Wiebke. Sie saß mit der Ruhe alter Gewöhnung und regierte die Ruderpinne mit sicherer Hand. Ich fürchtete mich nicht. Sie nickte mir vergnügt zu und zeigte voraus. „Da sehen Sie schon den langen Steg, den sie ins Wasser hinausgebaut haben; da legen wir an und machen das Boot fest. Dann weise ich Sie erst zurecht und mache meine Einkäufe. Ich esse bei meiner Tante –“

Ein lustiger Gedanke durchfuhr mich.

„Nein, Wiebke, möchten Sie nicht ’mal an der großen Gasttafel mitessen? Ich lade Sie ein; bitte, kommen Sie mit!“

Freudig leuchtete es in ihrem Auge auf.

„Ist das Ihr Ernst, Herr Amtsrichter? Ja, das möchte ich schrecklich gern einmal; o, das ist reizend von Ihnen!“ rief sie dankbaren Tons.

„Abgemacht!“ Und ich freute mich darauf, mit dem schönen Friesenkinde zusammen hier, ein Fremder, den keiner kannte, zu Tisch zu sitzen und ihr einen Gefallen damit zu thun. Ich war ja sicher, daß sie mir keine Verlegenheiten bereitete. Sicher aber auch war ich manchen Neiders. Sie mußte auffallen, und das war mir gerade recht in der fast übermüthigen Stimmung, in die ich seit gestern gerathen war. Und heute im frischen Morgenwind schwoll mir das Herz ordentlich in neuer Lebenslust. Als ich auf der Brücke ihr die Hand reichte, um ihr aus dem Boot zu helfen, da war mir der Gedanke, wieder unter so vielen Menschen zu sein, gar nicht mehr unbehaglich; ich fühlte mit einem Male, wie jung ich noch war.

So gingen wir Seite an Seite über den Steg, und ich hatte meine Freude daran, wie sicher und zierlich ihre Füße in den kurzen Schuhen und weißen Zwickelstrümpfen auf den hallenden Planken auftraten.

Ich ging mit ihr in allerlei Läden umher, und es machte mir Vergnügen, zu sehen, wie das reizende junge Ding mit frischer Thatkraft ihres Amtes waltete als Führerin und Anwalt in all den Sachen, von denen ich nichts verstand, und ebenso ihre eigenen Angelegenheiten bestimmt und umsichtig ordnete.

„So, nun möchte ich nur noch in den Handschuhladen da drüben, und dann gehen wir zum Essen! Sind Sie nicht auch hungrig, Wiebke?“

„Nein, ich freue mich viel zu sehr!“ sagte sie kindlich. Und das glühende Roth der Ueberraschung und des Glücks, das ihre Wangen färbte, als ich ihr sagte: „Jetzt suchen Sie sich ein Paar helle Handschuhe aus zu unserem Diner!“ war allerliebst.

So traten wir ein in den großen Saal mit seinen langen, üppig gedeckten Tafeln. „O wie wunderschön!“ flüsterte sie befangen und schmiegte sich ist unwillkürlicher Scheu an mich, den einzig bekannten Menschen unter den vielen, die theils schon längs der Tische saßen, theils noch fluthartig durch alle Thüren geputzt herein strömten.

„Kommen Sie, Wiebke, legen Sie Ihren Arm in den meinigen! So – nur die Finger!“

Die Hand, die leicht in ihrem hellgrauen Handschuh auf meinem Arm lag, sah jetzt sehr zierlich aus. Wir gingen die lange Reihe entlang. Wie sie nun festen Halt an mir hatte, da richtete sie ihre schlanke Gestalt auf, und den Kopf ein wenig zurück und zur Seite gelegt, ließ sie die Blicke schnell musternd über die Leute hinwandern, ohne Verlegenheit, mit einem wirklich allerliebsten Ausdruck von kindlichem Stolz. Manches Auge folgte uns.

„Sehen Sie nur,“ flüsterte sie zu mir aufschauend, „wie die Leute uns nachsehen; das thut gewiß meine Kleidung! Ist Ihnen das nicht unangenehm?“

Ich wollte widersprechen, doch ich besann mich noch zu rechter Zeit. Wozu das Mädchen eitel machen!

Ziemlich weit unten an der Tafel fanden wir Platz. Ich ließ einen Stuhl frei zwischen der zunächst sitzenden, die Speisekarte musternden Dame und mir, den bald darauf ein Herr mit blondem Vollbart einnahm, welcher sich ihr sehr eifrig zu widmen schien.

Sie antwortete ihm mit einer Stimme, deren Klang mir bekannt vorkam; aber als ich selbst von der Speisekarte aufblickte nach ihr hin, konnte ich nur ihren Nacken sehen. Sie sprach eifrig mit einem älteren Herrn an ihrer rechten Seite; ich wandte mich Wiebke zu, die strahlenden Blickes die Reihen hinauf und hinunter sah.

„Soll ich die Handschuhe ausziehen?“ fragte sie leise, sich dicht zu mir beugend und mir mit einem wirklich süßen Blick ins Gesicht sehend.

„Nein!“ erwiderte ich ebenso leise; „sehen Sie, viele Damen behalten sie an!“ Sie nickte. – Und nun kam die Zahl der Gerichte.

„Das kenne ich ja kaum!“ bewunderte sie eins ums andere; aber sie saß trotzdem mit einem Anstand zu Tisch, der meine letzte Besorgniß um das Wagestück unterdrückte. Mir selbst that die gesellige Luft hier jetzt wohl und ich wurde heiterer und heiterer. Sie plauderte so frisch und natürlich und so vertrauend, als wäre ich ein alter guter Bekannter; jetzt schwirrte über die ganze Tafel das Gespräch, und noch dazu spielte nicht fern von uns rauschende Tafelmusik; da that kein Flüstern mehr noth und war auch nicht mehr möglich, wenn man sich verständlich machen wollte. Auch Wiebke sprach jetzt laut und lachte wohl einmal silberhell dazwischen ein wenig auf. Die Musik spielte eben die Ouvertüre zu einer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 479. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_479.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)