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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

„Du hast mir versprochen, liebe Alice, Dich der Behandlung des Doktor Reinsfeld anzuvertrauen, hier bringe ich ihn Dir! Du weißt es ja, wie besorgt ich um Deine Gesundheit bin.“

Der Ton der Worte war in der That besorgt und äußerst rücksichtsvoll, aber es lag keine Zärtlichkeit darin. Reinsfeld, den die Vornehmheit der Baronin schon gänzlich eingeschüchtert hatte, wagte der jungen Millionärin gegenüber nicht einmal eine Verbeugung, denn seiner Meinung nach mußte diese noch weit vornehmer und hochmüthiger sein. Er stand da, mit der Miene eines Opferlammes, als eine leise, aber unendlich sanfte Stimme an sein Ohr schlug.

„Sie sind mir willkommen, Herr Doktor, Wolfgang hat mir schon viel von Ihnen erzählt.“

Der Herr Doktor sah ganz überrascht auf und blickte in ein Paar große braune Augen, die allerdings etwas verwundert, aber ohne jeden Spott auf ihm ruhten. Er hatte noch die in Atlas und Spitzen gehüllte Erscheinung im Kopfe, die er aus dem Bilde kannte und die ihm dort so unnahbar erschien, und jetzt sah er eine zarte Gestalt, im weißen duftigen Morgenkleide, das lichtbraune Haar nur lose aufgenommen, ein blasses, aber liebliches Antlitz, dessen Ausdruck wohl müde, aber nichts weniger als blasirt und hochmütig war. Er war förmlich bestürzt darüber und stotterte etwas von großer Ehre und vielem Vergnügen, blieb aber natürlich schon im zweiten Satze rettungslos stecken.

(Fortsetzung folgt.)




Ein deutsches Dorf in Attika.
Reisebild von Eduard Engel.

Der Ausflug, den ich vor einigem Jahren an einem Maisonntage von Athen nach dem deutschen Dorf in Attika Herakli (oder auch Irakli) machte, sollte mir nicht nur ein Bild über den jetzigen Zustand dieses halb vergangenen bayerisch-griechischen Idylls verschaffen, sondern ich hatte dabei auch die Absicht, mir einmal durch ein recht greifbares Beispiel eine deutliche Vorstellung zu verschaffen von dem Entwickelungsgange des griechischen Volkes in seiner Mischung mit fremden Volksbestandtheilen. Was in dieser deutschen Kolonie sich vollzogen, das mußte ja vorbildlich sein für die Bildung des neugriechischen Volksthums überhaupt, denn anders ist es auch, im großen und ganzen, nicht zugegangen während der Ueberfluthung mit fremden Stämmen im frühen und späten Mittelalter und unter der Türkenherrschaft.

Irakli, wie es im Volksmunde heißt; Herakli, wie es die Gebildeten und die Eisenbahnverwaltung in der Erinnerung an ein altes Heraklesheiligthum nennen, ist an Dörfchen von ungefähr 30 Häusern, also 30 Familien, und kaum 200 Seelen; es liegt, mit der Eisenbahn in 20 Minuten erreichbar, nordöstlich von Athen, unweit des Flusses Kephisos, mit schönem Blick auf das Parnesgebirge und den Gipfel des Pentelikon. Das Dorf ist Eisenbahnstation der stark befahrenen Bahn Athen-Kephisia und sogar Knotenpunkt der hier abzweigenden wichtigen Linie Athen-Laurion. Aber der Verkehr nach beiden für Athen so bedeutsamen Orten braust an dem stillen Herakli vorüber; selten steigt jemand auf der kleinen, weit vom Dorf entlegenen Station aus oder ein, und als ich mit einem athenischen Freunde auf dem Frühzuge dort anlangte, erregten wir die neugierigste Aufmerksamkeit der Eisenbahnbediensteten.

In den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts ist das Dorf entstanden, und zwar, wie immer bei Neugründungen in Griechenland, auf einer alten Kulturstätte. Bayerische ausgediente Soldaten, Halbinvaliden, die nicht mehr nach der deutschen Heimath zurückkehren wollten, wurden hier von König Otto angesiedelt und mit genügenden Mitteln zum Fortkommen ausgestattet. Der Erdboden eignet sich mehr zum Weinbau als zur Körnerfrucht; er ist, wie fast aller attische Boden hartschollig, stark mit verwittertem Felsgeröll untermischt und schlecht bewässert. Westlich läuft in ziemlicher Entfernung die Fahrstraße nach Tatoi, dem Landsitz des Königs Georg, und nach Dekelea, der alten attischen Gebirgsfestung, vorüber, und bis zur Fahrstraße von Athen nach Kephisia ist’s wohl eine gute Stunde weit. Nicht einmal von der jetzigen Station führt eine Fahrstraße, wäre es auch nur ein leidlicher „Bauernweg“, nach dem ehemals deutschen Herakli. Alle Verkehrsadern laufen daran vorbei, keine berührt es.

Jene bayerischen Ansiedler hatten zum größeren Theile deutsche Frauen geheirathet, Töchter deutscher Handwerker in Athen, die vom Hofstaat lebten. Aber gleich bei der Gründung des Dorfes war etwas griechisches Blut hineingekommen; einige griechische Frauen wirthschafteten schon damals an der Seite ihrer bayerischen Gatten, und damit war der Gährungsstoff gegeben zu der langsamen, aber unaufhaltsamen Umwandlung des Volkscharakters jener kleinen Gemeinde.

Rundum wohnten Griechen, wie sie heute dort wohnen in den zahlreichen Dörfern und Weilern der attischen Ebene. Auf den Verkehr mit diesen griechischen Nachbarn angewiesen, viel zu weit von Athen entfernt, um regelmäßig mit dem damals noch ziemlich starken deutschen Element der Hauptstadt in Verbindung zu bleiben, hörten die bayerischen Ansiedler beim ersten Schritt aus ihrem Dorf heraus nur Griechisch, welches sie ja schon vorher in der Armee und im städtischen Verkehr erlernt hatten. Es hätte einer größeren Widerstandsfähigkeit bedurft, als sie der einfache Deutsche im Auslande meist besitzt, um sich trotz der guten eigenen Kenntniß des Griechischen und trotz des täglichen Verkehrs mit Griechen die reine Muttersprache zu erhalten. Die Kinder der Mischehen lernten natürlich von der griechischen Mutter zuerst Griechisch und später vom Vater nicht immer Deutsch, denn dieser sprach ja auch mit der Gattin nur griechisch. So wurden schon in der nächsten Generation, eigentlich schon wenige Jahre nach der Gründung, ganze Familien mit deutschem Oberhaupt sprachlich zu Griechen.

König Otto nahm sich freilich nach Kräften seiner eigenthümlichen Schöpfung an und sorgte namentlich dafür, daß sie eine deutsche Schule und einen deutschen Pfarrer erhielt. Die Kirche trägt noch heute äußerlich einen ungriechischen Charakter, wie sie denn auch nicht dem griechisch-katholischen, sondern dem römisch-katholischen Gottesdienst geweiht ist. Was wurde aber aus einer deutschen Schule, deren Kinder im elterlichen Hause und auf der Dorfgasse zum Theil Griechisch hörten und selbst sprachen? Nachdem der erste deutsche Lehrer abgenutzt war, fand sich nicht leicht wieder ein Nachfolger. Denn er hätte ja aus Deutschland bezogen werden müssen; und welcher deutsche Lehrer hätte sich bei kläglichem Gehalt in jene Einsamkeit und Fremdheit verbannen lassen? Man nahm also seine Zuflucht zu einem deutschen Pfarrer, der nun gleichzeitig Lehrer sein mußte. Aber gar bald fand sich auch kein Pfarrer mehr aus Deutschland selber für das verkrüppelte ferne Gemeinwesen, und nun ging der Umwandlungsprozeß mit Riesenschritten vorwärts. Als vollends vor einem Menschenalter König Otto das Land verließ, hatte die letzte Stunde des deutschen Dorfes Herakli geschlagen, denn von nun ab kümmerte sich überhaupt niemand mehr um jenen verlorenen Posten.

Der Zustand, in dem ich Herakli im Mai des Jahres 1886 vorfand, war vollends ein kritischer. Bis dahin hatte es einen Pfarrer gehabt, der mit bewundernswerther Hingebung sich der Wahrung des Deutschthums annahm, ohne selbst ein Deutscher zu sein. Herr Armágos, der bisherige Ortspfarrer, dem ich die meisten Angaben über Herakli verdanke, stammt von der Insel Syra her, dem Hauptsitz des römischen Katholicismus in Griechenland. Er hat seine Studien in München gemacht, spricht ein angenehmes Bajuwarendeutsch, hat Verständniß und Liebe für deutsche Art, deutsche Litteratur und deutsches Volk und ist während vieler Jahre ein treuer Hüter des ihm anvertrauten fremden Menschengutes gewesen. Auf die Dauer aber hat er die furchtbar bedrückende Einsamkeit nicht ertragen und selbst die neugeschaffene Eisenbahnverbindung mit Athen hat nicht vermocht, ihm seine Bürde leichter zu machen. Als ich ihn besuchte, war er im Begriff, Herakli den Rücken zu kehren auf Nimmerwiedersehn, und wenige Wochen später traf ich ihn dann auf dem Dampfer, der mich von Korinth der Heimath zuführte, auf dem Wege nach München begriffen.

Schon Herr Armágos hat sich genöthigt gesehen, griechisch zu predigen und griechisch die Christenlehre zu treiben. Unter den Frauen des Dörfchens sind nur noch sehr wenige, die Deutsch genug verstehen, um dem höheren deutschen Stil in Predigt und kirchlicher Unterweisung zu folgen. Sie hören von ihren Männern wohl die wichtigsten deutschen Wörter des täglichen Verkehrs in Haus und Hof, aber sie selbst sprechen sie nicht nach.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 554. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_554.jpg&oldid=- (Version vom 5.8.2018)