Seite:Die Gartenlaube (1888) 615.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Geld kostet, und sträuben sich gegen seine Hilfe. Zwischen mir und den Wolkensteinern herrscht aber ein Ausnahmeverhältniß. Wir haben schon schwere Zeiten zusammen durchgemacht und sie rechnen es mir hoch an, daß ich sie da nicht im Stiche gelassen habe und ohne Unterschied zu jedem gehe, der mich braucht, wenn mir viele auch nur ein ‚Vergelt’s Gott‘ sagen können. Es ist viel Armuth unter dem Volke, und man kann da wahrhaftig nicht immer an sich denken, ich wenigstens habe es nie gekonnt.“

„Ja, das weiß ich,“ fiel Alice mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit ein. „Sie haben auch damals nicht an sich gedacht, als es sich um eine bessere Stellung für Sie handelte, Wolfgang erwähnte es ja bei Ihrem Besuche.“

In dem Gesichte Bennos stieg eine flüchtige Röthe auf bei dieser Hindeutung.

„Erinnern Sie sich wirklich noch jener Aeußerung? Ja, Wolf hat mich damals arg ausgescholten, und er hatte auch recht. Es war eine äußerst vorteilhafte Stellung an dem Krankenhause einer größeren Stadt und durch einen günstigen Zufall waren mir Fürsprache und Vorzug vor den anderen Bewerbern gesichert worden, aber ich mußte mich persönlich vorstellen bei der Wahl und sofort eintreten, das wurde zur Bedingung gemacht.“

„Und Sie hatten gerade zu der Zeit Kranke hier am Orte?“

„Nicht hier im Orte allein, überall in meinem ganzen Bezirk. Der Würgengel der Diphtheritis war ausgebrochen und suchte sich seine Opfer unter den Kindern, welche die Ansteckung wohl aus der Schule mitbrachten. Fast in jedem Hause lag eins oder mehrere und die meisten waren schlimm dran, denn die Krankheit trat sehr bösartig auf – und gerade als sie ihren Höhepunkt erreicht hatte, kam das Anerbieten! Der nächste Arzt wohnt eine halbe Tagereise entfernt und unsere vornehmen Herren Kollegen aus Heilborn kommen nicht in Sturm und Schnee herauf zu den einsamen Höfen, sie sind den Leuten auch zu theuer. Ich zögerte von Tag zu Tag mit der Abreise und Wolfgang drängte immer wieder von neuem, aber ich konnte doch nicht fort – Nazi, komm’ einmal her!“

Er winkte einem etwa sechsjährigen Buben, der sich mit vorgedrängt hatte und nun vergnügt dem Tanze zuschaute. Es war ein draller kleiner Bursche, mit flachsblonden Haaren und einem frischen, pausbäckigen Gesicht; er kam schleunigst herbei, sehr stolz darauf, daß der Herr Doktor ihn rief, und sah zutraulich zu der jungen Dame empor, der er vorgestellt wurde.

„Sehen Sie sich den Buben einmal an, gnädiges Fräulein,“ fuhr Reinsfeld fort. „Nicht wahr, man merkt es ihm nicht an, daß er vor acht Monaten auf den Tod lag? Es ist der Enkel des alten Sepp, der früher im Wolkensteiner Hofe war, und er hat noch ein Schwesterchen, das damals auch beinahe am Sterben war – die beiden haben den Ausschlag gegeben! Grade vor meiner nun endlich doch beschlossenen Abreise kam der Sepp in einer Sturmnacht, um mich zu holen, der Alte weinte bitterlich und die junge Bäuerin, die Mutter, jammerte und schrie: ‚Gehen Sie nicht fort, Herr Doktor, der Bub’ stirbt mir und das Mädel auch, wenn Sie davongehen!‘ Nun, ich wußte am besten, wie noth den Kindern ärztliche Hilfe that, ihnen und all den anderen, die ich in Behandlung hatte. Der arme kleine Bursch kämpfte so jammervoll mit der schlimmen Krankheit, sah so angstvoll bittend zu mir auf, als sei ich der liebe Herrgott selbst – da blieb ich! Ich brachte es nicht übers Herz, davonzugehen und das kleine Volk allein zu lassen in seinem Elend , um mir eine behagliche Stellung zu sichern. Ich habe es freilich gemeldet, daß und warum ich nicht kommen könne, aber darauf konnten die Herren natürlich nicht warten; es waren ja genug andere Bewerber da, die Stelle wurde vergeben.“

„Und Sie?“ fragte Alice leise.

„Ich? Nun, gnädiges Fräulein, ich habe es nicht bereut, denn die meisten meiner kleinen Patienten habe ich damals glücklich durchgebracht und seitdem gehen die Wolkensteiner für mich durchs Feuer!“

Alice antwortete nicht, sie sah nur mit großen Augen zu dem Manne empor, der das alles so schlicht und einfach erzählte, weit entfernt davon, sich ein Verdienst daraus zu machen, daß er vielleicht seine ganze Zukunft geopfert hatte; dann aber zog sie den kleinen Nazi an sich und drückte einen Kuß auf das frische Gesicht des Bübchens. Es lag etwas unendlich Liebenswürdiges in der Bewegung und Bennos Augen leuchteten auf dabei, er verstand die wortlose Anerkennung, die darin lag.

„Nun, Benno, nehmen Sie auch hier die Huldigungen des versammelten Volkes entgegen?“ rief Wally, die soeben mit ihrem Manne herantrat, und Gersdorf fügte lachend hinzu:

„Das war ja ein förmlicher Triumphzug, der Dich und Fräulein Nordheim nach dem Tanzplatze geleitete; laß uns doch auch etwas von Deiner Popularität zukommen.“

Jetzt kamen auch Waltenberg und Erna, und die ganze Gesellschaft ließ sich gemüthlich in jener Ecke des Tanzplatzes nieder. Die arme Frau von Lasberg ahnte nicht, was ihre unzeitige Migräne angerichtet hatte. Alice, die so ängstlich vor jedem Lärm, jeder unpassenden Umgebung behütete Alice, saß jetzt dicht bei der ohrenzerreißenden Musik des ländlichen Orchesters, mitten in dem Juchzen und Schreien der Tanzenden, deren nägelbeschlagene Sohlen kräftigst den Takt stampften, mitten in den aufwirbelnden Staubwolken und befand sich merkwürdigerweise ganz vortrefflich dabei. Ihre bleichen Wangen hatten sich leise geröthet, die sonst so müden Augen strahlten förmlich vor Vergnügen und Benno Reinsfeld stand neben ihrem Stuhle, stolz und glückselig, wie noch nie in seinem Leben, und benahm sich wirklich und wahrhaftig wie ein Kavalier – es geschahen Zeichen und Wunder am heutigen Tage!

Die Popularität des Doktors hatte indessen auch ihre bedenkliche Seite, das sollte sich bald zeigen. Der kleine Nazi war von seiner Mutter mit geheimnißvoller Miene vom Tanzplatze geholt worden, da man ihm eine wichtige Mission anzuvertrauen beabsichtigte. Der alte Sepp hatte damals aus der Nordheimschen Villa eine Neuigkeit mitgebracht, die der Dienerschaft bereits für ausgemacht galt, die Nachricht, daß Fräulein von Thurgau und der fremde Herr aus Heilborn ein Paar werden sollten oder es eigentlich schon seien, und daß man nur auf die Rückkehr des Präsidenten warte, um die Verlobung zu feiern.

Die junge Bäuerin, Sepps Tochter, die bis zu ihrer Heirath gleichfalls im Wolkensteiner Hofe gewesen war und die alte Anhänglichkeit bewahrt hatte, war außer sich vor Freude gewesen, als sie das gnädige Fräulein heute wiedersah und ihre beiden Sprößlinge vorstellen durfte. Jetzt sollte der Nazi der Braut den Johannisspruch aufsagen und im Verein mit seiner Schwester die Sträußchen überreichen, welche die damit Beschenkten verpflichteten, mit einander zu tanzen. Das Fräulein kannte ja die alte Sitte und war gewiß erfreut, wenn man sie und ihren „Schatz“ damit begrüßte. Aus dem großen Strauß frischer Alpenblumen, der im Gastzimmer stand, wurden die schönsten ausgewählt und in aller Eile noch eine Generalprobe veranstaltet, bei welcher Nazi trefflich bestand, und nun sollte die Sache ihren Lauf nehmen.

Auf dem Tanzplatze war gerade eine Pause eingetreten, auch die Musik schwieg, als Nazi wieder aus der Bildfläche erschien. Er hielt in der einen Hand ein Sträußchen von Alpenrosen, an der anderen sein jüngeres Schwesterchen, das ein ähnliches Sträußchen trug, und schritt ernsthaft und feierlich auf die fremden Herrschaften zu, wie man es ihm eingeschärft hatte. Die Instruktion mußte aber wohl nicht hinreichend klar gewesen sein, denn die beiden Kleinen marschirten geradeswegs auf den Doktor und Alice los, boten ihnen die Blumen und Nazi begann seinen Spruch aufzusagen.

„Jesses, Nazi, das sind ja nicht die Rechten!“ rief halblaut und erschrocken die Bäuerin, die ihnen gefolgt war, aber Nazi ließ sich dadurch nicht stören. Für ihn gab es überhaupt nur einen „Rechten“, das war der Herr Doktor, und die junge Dame an dessen Seite mußte nothgedrungen auch die Rechte sein. Er betete daher tapfer seinen Spruch herunter und schloß treuherzig:

„Weist meine Blümel’n
Nimmer zurück,
Johannissegen
Schafft Euch das Glück!“

Alice nahm verwundert, aber freundlich das Sträußchen, welches das kleine Mädchen ihr reichte, Benno jedoch, der die Bedeutung kannte, geriet in grenzenlose Verlegenheit.

„Aber Bub’ – Mädel, was fällt Euch denn ein!“ rief er und versuchte, die Kinder abzuwehren, aber Nazi ließ sich so leicht nicht abweisen, sondern drückte energisch sein Sträußchen dem Herrn Doktor in die Hand.

„So nehmen Sie doch die Blumen!“ sagte Alice unbefangen. „Aber was bedeutet denn das Ganze?“

„Es ist der alte Johannis- und Segensspruch,“ erklärte Erna lächelnd, „und die Blumen bedeuten, daß Du nun

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 615. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_615.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)