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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

„Du liebe Träumerin! Finde Du nur erst das Glück, das Dein reines Herz im Träumen ersehnt, so wirst Du schon auch an der Wirklichkeit ein Genüge finden.“

„Ich bin eben jetzt ganz glücklich. Und doch ist mir gar träumerisch zu Muthe.“

„Weil Dir das Märchenhafte dieses Sees, dieser Umgebung heimlich den Glauben nährt, daß auch theure Märchenträume Deiner Seele sich noch erfüllen könnten.“

Das Mädchen wurde roth und sah wie verschämt zu ihrer Tante auf.

„Märchenträume? Wie kommst Du zu dem Wort?“

„Ei nun. Prinzen, die verzauberte Prinzessinnen erlösen, die brave Mägdlein aus Einsamkeit und Vergessenheit befreien, bevölkern die nicht schon die Traumwelt unserer Kinder? Wenn ich Dein sprödes Verhalten allen bisherigen Heirathsanträgen gegenüber betrachte – ich will dabei von diesem, ich gebe es zu, nicht sehr verlockenden Tümpling ganz absehen – so muß ich glauben, ein solcher Traum aus der Kinderzeit stehe bei Dir einem realen Erfassen ehelichen Glückes im Wege.“ Sie umschlang bei diesen Worten ihre junge Nachbarin, welche, ihren Kopf an ihre Schulter legend, die Augen schloß und schwieg, während ein seliges Lächeln um ihre Lippen schwebte. „Ich habe also recht,“ fuhr sie fort. „Willst Du mir nicht einmal den Kindertraum erzählen?“

Marie schüttelte mit dem Kopf.

„Er läßt sich nur träumen!“

„Und gar nicht zur Wirklichkeit machen?“ frug sanft und mit besorgtem Blick die mütterliche Freundin.

„Doch, doch! Noch hoffe und glaube ich’s.“

„Aber sage, Kind, Dein Prinz, Dein Märchenprinz muß dann doch auf Erden wandeln, von Fleisch und Blut sein wie Du? Man muß ihn doch auffinden können, ihn darauf aufmerksam machen, daß Du seiner harrst.“

„Er muß von selbst kommen!“

„Ja, aber sag’ mir nur wenigstens, wo er lebt. Kenn’ ich ihn?“

„Das weiß ich nicht.“

„Aber wie er heißt?“

„Das weiß ich nicht.“

„Du sprichst in Räthseln, Kind. Was er ist, mußt Du aber doch wissen?“

„Ach, auch das ist mir unbekannt. Aber“ – und das Mädchen erhob sich plötzlich – „jetzt habe ich genug verrathen. Wir versäumen die Zeit. Der Onkel wird droben schon auf uns warten. Das Märchenerzählen langt für die Winterabende, aber nicht für gefährliche Bergpartien. Siehst Du, Tantchen, dort geht’s schon wieder recht scharf in die Höhe.“ Und damit schritt sie mit dem ihr eigentümlichen leichten Gange voran.

In der That war inzwischen oben auf seinem Warteposten Professor Schröder ungeduldig geworden. Er hatte mit einem Fernrohr von geeigneter Stelle aus die Nahenden verfolgt und auch ein paarmal an Punkten, wo der Weg sichtbar wurde, sie erkannt; anfangs in Begleitung von dem geschniegeltem Aristokraten, der seit einigen Tagen aus sichtlichem Interesse für seine Nichte Marie ihr Reisegenosse geworden war, dann ohne ihn. Was konnte vorgefallen sein und die Trennung bewirkt haben? Im Grunde that es ihm wohl, den ihm unsympathischen Menschen aus dem Gesichtsfeld schwinden zu sehen. Er hatte zwar von Anfang an das Vertrauen gehabt, das kluge Mädchen werde die Hohlheit und Oberflächlichkeit seines Wesens bald genug durchschauen und seine Bewerbung zurückweisen. Aber wer ist vor Irrthum geschützt, wenn es sich um Vorausberechnungen handelt in Bezug auf Neigung und Liebe? Auch kannte er die Schwäche seiner sonst so vernünftigen Frau sowie der Mutter Mariens, das eigenthümliche Mädchen, dessen Herz so lange Zeit zur Entknospung brauchte, durchaus unter die Haube bringen zu wollen. Natürlich, um es später nur zu bereuen! … Unter solchen Betrachtungen war er den Damen entgegen gegangen, begierig auf die Lösung des Räthsels, denn etwas Besonderes mußte den Herrn doch zum Rückzug veranlaßt haben.

Mit warmem Interesse hörte er dann, als er die Damen, die er gestern bei unsicherem Wetter verlassen und jetzt bei leuchtendem Sonnenschein wiedergefunden hatte, die Mittheilungen seiner Frau an, während Marie, die ihn mit inniger Herzlichkeit begrüßt hatte, vorausschritt.

„Ein seltsames Mädchen,“ sagte er, nachdem er den Hergang erfahren hatte. „In diesem Falle kann ich ihr ja nicht unrecht geben, im Gegentheil; aber ihr Verhalten ist allerdings auch ein neues Symptom jener ablehnenden kühlen Art, mit der sie bisher allen sie umwerbenden Männern begegnet ist. Weißt Du denn gar nicht, was diese verursacht?“

„Eben vorhin erst hat mir das Kind einen, jedoch auch nur schmalen Einblick in diese Welt ihres Herzens gewährt. Und das fragmentarische Bekenntniß klingt so seltsam, so märchenhaft, daß es mich recht mit Sorge erfüllt hat. Der Mann, den sie liebt, ist nicht viel mehr als ein Hirngespinst, kaum daß er mehr Wirklichkeit hat als die Gestalt eines Traumes. Denke Dir: sie weiß nicht, wo er lebt, nicht was er ist, nicht einmal wie er heißt. Und dabei hofft sie mit einem Glauben, der an den des Käthchens von Heilbronn gemahnt, dennoch auf ein Wiedersehen, ja auf eine dauernde glückliche Vereinigung mit ihm. Welche romantische Schwärmerei!“

Der Professor war nachdenklich geworden. Er strich sich über den weißen Vollbart, zog dann die Stirn nach oben und blickte in die Ferne, als ob es dort geheime Inschriften zu enträthseln gäbe, dann aber ging ein feines Lächeln über seine Züge und er sagte schmunzelnd: „Vielleicht handelt es sich doch hier nur um ein neckisches Spiel des launigen Gesellen, den Gott Amor so gern zum Regisseur wählt, wenn er eines seiner Lustspiele aufführt, des Zufalls. Ja, lausche nur auf! – Marie!“ rief er dann der vor ihnen in Sinnen einher Schreitenden zu , und als diese dem Rufe entsprochen hatte, fuhr er in herzlichem Tone fort: „Wir reden eben vom Thüringer Wald, in dem ich meine ersten kleinen Bergtouren als Knabe vollführt habe; sag’ mal, warst Du auch einmal in Thüringen?“

„Freilich, Onkel. Papa hatte dort einen reichen Verwandten, der leider bald, nachdem ich einmal mit Mama und Großmama einen Monat lang auf seinem Gut zu Besuch gewesen war, verstorben ist. So bin ich später nur noch einmal flüchtig auf einer Rundreise durch das schöne Stück Land gekommen.“

„Es hat Dir also damals sehr gut dort gefallen?“

„Ach, Onkel; ich kam damals gerade, kaum sechzehnjährig, aus der Pension von Lausanne; es war mein Eintritt aus der Schule ins Leben. Und was für ein Eintritt! Ein herrlicher Mai, blühender Frühling ringsum, freundliche, liebe Menschen, Freiheit und Jugendluft – nie vergessen kann ich den Tag meiner Hinfahrt, meiner Ankunft; es war, als stände der Himmel offen! O Gott – es war eben zu schön, als daß es hätte so bleiben können!“ Eine plötzliche Ueberwallung des Gefühls erstickte die Stimme des Mädchens, sie mußte schluchzen, weinen. Doch bald fand sie wieder die Herrschaft über sich. „Verzeiht,“ sagte sie leise, „ich bin heute so aufgeregt und reizbar trotz all der Schönheit, die mich umgiebt; weiß selber nicht warum.“

„Die Scene mit Herrn von Tümpling hat Dich mehr alterirt, als Du zugeben wolltest,“ tröstete teilnehmend die Tante, welche ihren Mann fragend von der Seite ansah, was er denn mit seinem Verhör über Thüringen beabsichtigte. Dieser aber fuhr fort, indem er seinen Arm aus dem der treuen Gattin löste und ihn um die Schultern des geliebten Pflegekindes legte:

„Ich gebe nichts auf Ahnungen und die spiritistischen Auslegungen des Zufalls sind mir verhaßt. Und doch möchte ich sagen, es liegt etwas in diesem Sonnenschein, der schimmernd dort die Spitze des Säntis umspielt und von Fels zu Fels und Firnfeld zu Firnfeld seine goldenen Netze spinnt, was wie Sympathie auf Deine Nerven wirken könnte. Ob nicht auch der so fröhlich veranlagte und doch melancholische Herr Doktor Helbig, der mir gestern Abend ein Erlebniß, das er zu Pfingsten vor acht Jahren zwischen Schwarzburg und Ilmenau hatte und als das schönste seines Lebens bezeichnete, eben etwas Aehnliches aus diesem Sonnenlicht auf sich einwirken fühlt?“

„Onkel, wer – was sagst Du?“

Ein Beben ging durch die Stimme des Mädchens, und doch hielt sie ihren Onkel fest, daß er nicht weiter schreiten solle und ihr kein Wort von dem, was er da sagte, verloren gehe.

„Fassung, Kind! Nur eine Vermutung. Mehrere Herren und Damen, die gestern Abend gleich mir in der Meglisalpe eingeregnet waren, beschlossen auf meine Anregung, sich die Zeit durch Geschichtenerzählen zu vertreiben. Jeder sollte sein schönstes Reiseerlebniß zum Besten geben. Darunter ein junger Mann,

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