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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

Es wird in solchen Oktobertagen zwischen Wald und Felsen so manch ein heißer Kampf in Nacht und Dämmerung ausgefochten. Zuweilen geschieht es, daß die wilden Streiter im Kampfe die Geweihe unlösbar in einander verflechten und in solcher Umkettung einem elenden Tode sich entgegenquälen. Häufig erliegt ein schwächerer Hirsch den tödlichen Forkelstößen des stärkeren Gegners, und manchmal entspinnt sich der Kampf an abschüssigen Stellen; dann weicht unter einem der Kämpfer jählings die Erde und das Gestein, in einer Staub- und Sandlawine rollt der Stürzende über das steile Gefäll, liegt zerschmettert in der Tiefe, und wenn nicht das nachsinkende Erdreich über ihn einen schützenden Grabhügel deckt, so umschleichen ihn zur Nacht die hungernden Füchse, und am Tage kehren die scharfgeschnäbelten Bergraben und der schwingenstarke Adler auf seiner Leiche zu Gast.

So tragisch sollte nun allerdings der Kampf nicht enden, dessen Zeugen wir waren. Der Achter schien bei Zeiten die Uebermacht seines Gegners zu spüren, und so spielte er den Klügeren, welcher bekanntlich nachgiebt. Mit jähem Ruck befreite er sein Geweih, fuhr zur Seite, kam wie der „leibhaftige Teufel“ über die Almlichtung niedergeflogen und prasselte kaum zwanzig Schritt neben uns ins Tannendickicht. Der siegreiche Platzhirsch schlug mit den Läufen die Erde, schüttelte das Geweih und schrie dem Fliehenden mit zornigen Lauten nach.

„Gut is ’s, gut,“ flüsterte der Jäger an meiner Seite, „jetzt is er woltern in der Hitz’ – passen S’ auf – jetzt kriegt er den Schnecken zum Hören. Und richten S’ Ihnen nur gleich z’samm’ mit der Büchs, setzt kann’s pressiren, und über a paar Minuten wird’s aus sein mit der Schußlichten.“

Hastig zog er aus seinem Rucksack den „Schnecken“ hervor, jene große, auch unter dem Namen Kinkhorn bekannte Seemuschel, schielte flüchtig noch zu mir hinüber, ob ich fertig wäre, und ahmte dann, in die hohle Muschel rufend, täuschend den Brunftschrei des schwächeren Hirsches nach. Zornig warf der Platzhirsch, der schon als stolzer Sieger zum Rudel zurückkehren wollte, den Grind empor, ließ einen dumpfen Grohner hören, der Jäger antwortete, und da stürzte der streit- und eifersüchtige Recke in langen Sätzen niederwärts, um den vermutlichen Gegner vollends aus dem Felde zu schlagen. Auf etwa achtzig Schritte vor meiner Büchse stutzte er plötzlich – seit einer halben Stunde hatte sich der Himmel mit Nebeln zu überziehen begonnen, und schon seit einigen Minuten fackelte der Wind bedenklich hin und her – da mochte der zornmüthige Herr trotz aller Streitlust und Eifersucht von unserer gefährlichen Nähe einen „Schmecker“ bekommen haben. Ich aber ließ ihm nicht Zeit, über diese verfängliche Entdeckung länger nachzudenken; eine leichte Wendung nur wartete ich ab, bis er mir die Breitseite bot – dann krachte mein Schuß. In wilden Fluchten sah ich den Hirsch schräg abwärts in die Büsche stieben, droben auf dem Almbrett fuhr das Rudel nach allen Seiten aus einander, wie leichter Donner rollte noch das Echo meines Schusses über die dunklen Felswände hin – und lautlose Stille lag nun über dem weiten Bergwald.

Als ich mich setzt erhob, überfiel mich, glücklicherweise nach dem Schusse, das richtige Hirschfieber, und meine Hände zitterten, daß ich kaum die Patrone zu wechseln vermochte.

„Gut oder schlecht – setzt kann’s sein, wie’s mag,“ brummte der Jäger. "Wie sind’s denn abkommen?“

„Net übel, mein’ ich – schön kurz am Blatt.“

„No also, wann er an guten Schuß hat, kann’s so weit net fehlen. Ob er auf ’n Schuß a Zeichen g’macht hat, hab’ ich net sehen können, weil mir der Wind den Pulverdampf in d’ Augen ’trieben hat. Aber jetzt is allweil nix mehr z’ machen, setzt müssen wir ihm schon a Ruh lassen und müssen uns vertrösten bis auf morgen in der Fruh. A paar Vaterunser lang, und d’ Nacht is da.“

Gegen diese richtige Meinung war nichts einzuwenden. Lautlos birschte ich am Waldrand entlang und „verbrach“ an einem niederen Fichtenbäumchen die Stelle, an welcher der Hirsch das Dickicht gewonnen hatte. Dann traten wir den Heimweg an. Langsam stiegen wir thalwärts durch den finsteren Wald, und als ich meinen Freund, der schweigend an meiner Seite ging, nach einer Weile frug, wie denn der verflossene Abend mit seinen Ereignissen auf ihn gewirkt hätte, athmete er tief auf und sagte, daß er durch das herrliche, spannungsvolle Schauspiel dieses Abends zu einem verständnißvollen Freunde der Jagd bekehrt wäre, der wohl mit der Zeit ein tüchtiger Jäger werden möchte.

Dieses Geständniß machte mir Freude; trotz dieser Freude aber wurde mir, je näher wir der Hütte kämen, immer beklommener ums Jägerherz. Dichter und dichter überzog sich der Himmel mit Wolken, und ich fürchtete, daß die Nacht nicht ohne Regen vorübergehen würde. Die Regennässe mußte Fährte und Schweiß verwischen, und dann war es, wenn der Hirsch nicht schon nach kurzer Flucht zusammengebrochen, um die Nachsuche gar übel bestellt. Und meine Befürchtung wurde zu trüber Wahrheit; denn während wir noch beim Nachtmahl um das kleine Tischlein saßen, klatschte schon der Regen über das Schindeldach der Hütte. In Bangen und Sorgen verbrachte ich eine schlaflose Nacht, und es vermochte mich wenig zu trösten, als gegen die zweite Morgenstunde der Regen zu versiegen schien. Unruhig wälzte ich mich hin und her, während mein Freund zu meiner Rechten den bleiernen Schlaf des Müden schlief und mir zur Linken der im Heu vergrabene Jäger schnarchte wie ein Murmelthier. –

Als wir bei grauendem Morgen aus der Hütte traten, machten wir große Augen. Weiß, alles weiß, die Berge, der Wald und die Almen weiß von frisch gefallenem Schnee, und noch immer wirbelten die Flocken aus der grauen Höhe. Meinem Freunde gefiel das weiße Schimmerkleid, das die Berge über Nacht sich angezogen, mir aber wollte diese frische Unschuld durchaus nicht behagen, ich dachte an meinen Hirsch und schaute fragend den Jäger an.

Der zuckte die Achseln und meinte: „Au weh zwick – jetzt kann’s aber spucken!“ Und dabei blickte er mit sorglichen Augen aus den braunen Schweißhund nieder, der uns in großen Sätzen umsprang, als wüßte er schon, daß es an die Arbeit ginge.

Wir brauchten in dem zähen klebrigen Schnee zwei volle Stunden, bis wir die Alm erreichten. Auf dem hoch überschneiten Schußplatz nach Schweiß oder Schnitthaaren zu suchen, wäre vergebene Mühe gewesen. So eilte ich in brennender Ungeduld, meinen zwei Begleitern weit voraus, jenem Fichtenbäumchen zu, an welchem ich die Fluchtfährte verbrochen hatte. Da schoß eine heiße Blutwelle in meine Wangen und es lachte mir das ganze Gesicht – mochte nun meinethalben die Fährte verregnet und hoch überschneit sein! – der Hirsch hatte einen prächtigen Schuß, das deutete mir der helle Schweiß, mit welchem die über einander hängenden Zweige bespritzt waren, und zwar so reichlich, daß ihn alle Nässe nicht hatte verlöschen können. Freudig winkte ich meinen Freund und den Jäger herbei, nahm den Hund an die Leine, der den Schweiß begierig anfiel, und ließ mich von ihm ins Dickicht ziehen. In einem Bogen ging es thalwärts, wohl 150 Schritte durch dichten Bestand und noch dreihundert Schritte durch den Hochwald – dann lag er vor uns, der Herrliche, zu Füßen einer riesigen Tanne, nicht wie verendet, sondern wie in sorgloser Ruhe. Nur die Läufe waren ein wenig überschneit, und leicht zur Seite geneigt lag das braune, reichgeperlte Prachtgeweih. Er hatte die Kugel mitten auf dem Blatte sitzen, ein Schuß, mit welchem er zu anderer Zeit keine fünfzig Gänge weit gekommen wäre. Nur die zähe, gesteigerte Lebenskraft, die den Hirsch während der Brunftzeit erfüllt, hatte ihn nach einem solchen Schusse so weit noch führen können.

Nun ließ ich aber auch einen frischen Juhschrei hinaushallen in die weißdurchwirbelte Luft und steckte mir den wohlverdienten grünen Bruch aufs Hütlein. Dem Hirsch schnitt ich die schön gefärbten „Gran’ln“ aus dem Aeser und reichte sie meinem Freunde als Erinnerung an die Hirschbrunft in den Bergen.

Gegen Mittag stiegen wir thalwärts, der Jäger, um den Schlitten für den Hirsch zu holen, wir beide, um der Stadt entgegenzureisen.

Zweimal während des Niederstieges überholten wir den Schnee, doch immer wieder rückte er uns nach. Es schien, als wäre die weiße Decke ein Leichentuch, das von unsichtbaren Händen über die Berge gezogen würde, tiefer und tiefer mit jeder Stunde.

Die Hirsche hatten ausgeschrieen, und der eisbärtige Winter zog ins Land.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 663. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_663.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)